FALLADA ZUM TROST : Konzentriertes Lesen
Auf dem Bahnsteig der U5 am Alexanderplatz, kurz nach Mitternacht. Alle Bänke sind besetzt mit Männern und Frauen, die die Nacht beenden oder fortsetzen wollen. Ein junger Mann mit grünen Hosen, braunem T-Shirt und Turnschuhen sitzt mit dem Rücken zu ihnen im Schneidersitz auf dem Boden. Mit seiner Abgewandtheit scheint er dem Rest der Welt sagen zu wollen, dass er nicht gestört werden will.
Ich spaziere herum und beobachte den Weltabgewandten. Auf dem Kopf trägt er einen Strohhut, am Kinn wächst ein zarter Bartflaum, auf dem Rücken trägt er einen Rucksack und neben ihm auf dem Boden liegt ein Stoffbeutel, aus dem Gerätschaften zum Jonglieren herausschauen. In seinem Schoß liegt ein Buch, in dem er sehr ernsthaft und sehr konzentriert liest. In seinem Gesicht sind keinerlei Regungen auszumachen, die Rückschlüsse auf die Lektüre geben könnten. Als eine Horde betrunkener Jugendlicher auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig mit großem Hallo Absperrgitter aus Plastik überspringt und durch die Gegend wirft, schaut er nicht einmal auf.
Auf seinem Gesicht und in seinen braunen Augen liegt große Traurigkeit. Ich stelle mir vor, dass ihm zum ersten Mal in seinem jungen Leben das Herz gebrochen wurde und das Buch sein Rettungsanker ist. Auch in der U-Bahn nimmt er, obwohl noch Sitzplätze frei sind, auf dem Boden Platz und vertieft sich sogleich wieder in seine Lektüre. Trotz größter Anstrengungen gelingt es mir nicht, den Titel zu entziffern. Bei jeder Station dreht er sich um und schaut nach, dass er niemandem den Weg versperrt. Das finde ich sehr umsichtig für jemanden, der offenbar andere Probleme hat. An der Weberwiese steigt er aus. Als er sein Buch zuklappt, kann ich endlich den Titel lesen. „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada. Ich freue mich, dass das Buch noch immer Trost sein kann. BARBARA BOLLWAHN