Experte über Japans Mentalität: "An Naturkatastrophen gewöhnt"
Florian Coulmas, Leiter des Instituts für Japanstudien, über den Umgang mit der Katastrophe und die Frage, warum es keine starke Anti-Atombewegung gibt.
taz: Herr Coulmas, wie nehmen Sie die Reaktionen der japanischen Bevölkerung auf das dreifache Unglück wahr?
Florian Coulmas: In Japan sind die Menschen an Naturkatastrophen gewöhnt. Erdbeben sind hier an der Tagesordnung und Katastrophen gehören zum Lebensgefühl. Das Ausmaß jetzt ist zwar völlig unvergleichbar, aber der Respekt vor den Kräften der Natur und das Bewusstsein, dass so was über einen hereinbrechen kann, sind allgegenwärtig. Das ist meiner Meinung nach die psychologische Folie, nach der die Menschen hier funktionieren.
Wie erklären Sie sich diese sehr disziplinierten Reaktionen?
FLORIAN COULMAS 61, ist einer der führenden deutschen Japan-Experten. Er leitet das Institut für Japanstudien in Tokio. Zuvor unterrichtete er Sprache und Kultur des modernen Japan an der Uni Duisburg-Essen.
In solchen Momenten zeigt sich, dass Japan eine extrem zivile Gesellschaft ist, wo Rücksicht auf den anderen ein hohes Gut ist und als Norm respektiert wird.
Was hat Sie bei den Reaktionen auf die Katastrophe am meisten beeindruckt?
Wir haben sofort unser Institut verlassen, dessen Haus hin und her wankte. Sobald wir draußen auf der Straße waren, haben wir die Handys aufgeklappt, und auf den dortigen Fernsehkanälen gab es schon die Tsunami-Warnung. In Minutenfrist erfuhren wir, wo war das Beben, wie stark war es. Die Warnsysteme sind unglaublich effizient. Sie haben sicherlich vielen das Leben gerettet. Seitdem hat es praktisch nicht aufgehört zu beben, das letzte Beben hatten wir vor etwa zwei Stunden.
Fühlen Sie sich von Regierung und Behörden ausreichend informiert?
Ich empfinde die Reaktion der Behörden als völlig angemessen. Die Regierung ist fern vom Katastrophengebiet, in dem die Infrastruktur zusammengebrochen ist. Trotzdem hat sie ohne Verzug gehandelt und alle erdenklichen Hilfsmaßnahmen in Gang gesetzt. Bei einem Küstenstreifen, der über mehr als 500 Kilometer verwüstet ist, ist das eine gigantische Aufgabe.
Dennoch sind die Informationen der Regierung teilweise widersprüchlich.
Mit einem beschuldigenden Zeigefinger auf die Regierung zu zeigen, sehe ich nicht den geringsten Anlass. Die Situation ist unübersichtlich und das reflektiert zum Teil auch die Informationspolitik. Ich habe nicht den Eindruck, dass etwas vertuscht wird.
Nach Tschernobyl gab es in Deutschland eine Bewegung für unabhängige Messstellen, weil gegenüber den Angaben der Regierung großes Misstrauen herrschte. Wieso ist das in Japan anders?
Die Kernkraft ist in Japan keinesfalls unumstritten, aber in den letzten Jahren hat das Vertrauen in die zu beaufsichtigenden öffentlichen Stellen eher zu- als abgenommen.
Japans Anti-AKW-Bewegung findet auf nationaler Ebene kaum statt. Warum nicht?
In Deutschland ist die Antiatomkraftbewegung ja quasi der Nachfolger der Apo, der dann später zur grünen Partei wurde. Eine solche Partei ist in Japan nie entstanden, sondern die Bürgerinitiativen verblieben im Großen und Ganzen auf lokaler Ebene, ganz unabhängig vom Thema. Atomkritiker in Japan sind Unabhängige und Alternative, die andere Lebensformen wollen. Wenn Sie in einer Stadt wie Tokio oder Osaka leben, wissen sie, dass diese Lebensform nicht ohne Strom möglich ist. Wenn Sie den per Öl aus dem Mittleren Osten bekommen, sind sie von politischen Schwankungen abhängig.
Etwas mehr Autarkie ist also für Japan wünschenswert und das sehen viele so. Japan hat keine Rohstoffe, Windenergie ist schwierig, Gezeitenkraftwerke wegen der vielen Taifune ebenfalls. Deshalb hat der Normalbürger mit der Atomkraft ein Einsehen.
Wird die Katastrophe die Einstellung zur Technik negativ verändern?
Ich glaube nicht, dass es zu einer stärkeren Infragestellung von Technik kommt. Dass die Stromerzeugung mit Nuklearenergie noch mal diskutiert wird, kann ich mir jedoch vorstellen. Es wird wohl eine starke Fraktion geben, welche die Risikovermeidungstechnologie noch nicht für gut genug hält und Besserungen fordert.
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