Ewiger Friede für Kantgrad?

Geht es nach den Wünschen der Reformer, so soll Kaliningrad zu einer Freihandelszone werden. Doch es gibt auch andere Pläne: Rußlands Armee will eine Sonderverteidigungszone, deutsche Nazis eine Heimkehr ins Reich.  ■ Von Stephan Zimmermann

Glasscherben überall. Der Aufzug steckt zwischen zwei Stockwerken. Die schmalen Stege, die die beiden aufstrebenden Betonklötze verbinden, wirken brüchig. Der Palast der KPdSU steht seit über 20 Jahren im Zentrum von Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg. Bezogen wurde er nie. Die Fundamente waren zu schwach. Der Bau wurde auf den Grundmauern des Stadtschlosses errichtet, dessen Ruine 1968 gesprengt worden war. Breschnew hatte sich persönlich dafür eingesetzt, das durch den Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte „Symbol des preußischen Militarismus“ ganz zu beseitigen.

Der Parteipalast ist heute nur noch das Symbol einer vergangenen Zeit, das langsam dem Abriß entgegenbröckelt. Jahrzehnte lang war das Gebiet Kaliningrad, früher der nördliche Teil Ostpreußens, militärischer Sperrbezirk und auch für Sowjetbürger kaum zu betreten. Jetzt liegt es als russische Enklave eingeklemmt zwischen Polen und Litauen. Weitgehende Autonomie und wirtschaftliche Sonderrechte sollen das Gebiet zu einem russischen Brückenkopf nach Westen machen. Vom internationalen Flair einer Freihandelszone ist freilich noch wenig zu spüren.

Auf den Straßen und in den Geschäften beherrscht noch der Abakus die neue Marktwirtschaft, die antike Rechenmaschine mit schwarzen und weißen Perlen. Sogar im Kaufhaus, das bis hin zum Videorekorder allerhand zu bieten hat. An den Ständen mit Orangen und Bananen, die an allen Straßenecken gleich sind, ist der Perlenrechner ebenfalls unentbehrlich. Nur die Bäuerinnen, die stoisch im Schneematsch ausharren, kommen ohne aus. Die paar Rubel für Sonnenblumenkerne oder Petersilienwurzeln sind rasch addiert.

Eine Stadt der Reformer oder eine Stadt Schirinowskis?

„Der Erlaß ist da, aber noch keine Durchführungsbestimmungen.“ Irina Kusnezowa ist Vizepräsidentin der Gebietsverwaltung. „Der Erlaß“, das ist das Dekret, mit dem Boris Jelzin im Dezember noch einmal die besonderen Rechte der russischen Enklave festgelegt hat. Der erste Erlaß über die Freihandelszone vom September 1991 war vom Obersten Sowjet nie bestätigt worden. Der neue Ukas geht nun über den früheren noch hinaus. Waren für das Gebiet dürfen zollfrei eingeführt werden, Joint-ventures werden auf drei Jahre von der Steuer befreit. Momentan brüten aber in Moskau noch Kommissionen darüber, wie der Erlaß umgesetzt wird.

Die Gebietsverwaltung wird an diesen Überlegungen beteiligt. Die wichtigsten Positionen in ihr sind von Reformern besetzt. Präsident Matotschkin gehört selbst zu den geistigen Vätern der Freihandelszone. Ihm und seinen Anhängern werden bei den Kommunalwahlen am 27. März gute Chancen eingeräumt. Dabei hat auch Schirinowski im Kaliningrader Gebiet seine Anhänger. Bei den Wahlen im vergangenen Dezember bekam er 45 Prozent der Stimmen. Admiral Jegorew, Befehlshaber der hier stationierten baltischen Flotte, distanziert sich von ihm. „Wir haben den nicht gewählt.“ Bei der Flotte hätten sich eher Reformer wie Schumeijko durchgesetzt. Wer in Kaliningrad künftig regieren wird, entscheiden die Kommunalwahlen am kommenden Sonntag.

Rund 2.600 Westfirmen haben sich bisher auf ein Joint-venture im Kaliningrader Gebiet eingelassen, weiß Thomas Gärtig, der diese Firmen berät. Davon kämen 600 aus Deutschland. Polen sei noch stärker vertreten. Allerdings könnten nur 48 der Joint-ventures als „Großunternehmen“ bezeichnet werden. Zu diesen Großen gehört ein niederländisch-russisches Gemeinschaftsprojekt. Eingerichtet werden soll eine Schiffsverbindung von Holland nach Kaliningrad und weiter ins Baltikum. Kosten: 34 Millionen Dollar.

Irina Kusnezowa klagt, die größeren Betriebe hätten noch nicht den Mut, hier zu investieren. Den haben eher Betriebe aus der ehemaligen DDR: „Die können die Probleme hier besser verstehen.“ Andreas Grapatin vom „Förderverein Bernstein“ ist mit einer kleinen Delegation aus Dresden nach Kaliningrad gekommen. Der Förderverein berät etwa 40 mittelständische Firmen aus Sachsen. Das Spektrum der Branchen reicht von Instituten, die Management-Kurse anbieten, bis zu Lebensmittelherstellern. An der Spitze stünden aber Bau-, Elektrotechnik- und Transportunternehmen.

Ein Niederenergie-Haus aus Dresden

Die Dresdner sind nach Kaliningrad gekommen, um ein „kleines“ Joint-venture auf den Weg zu bringen. Rund 100.000 Mark werden da investiert. Der deutsche „Niederenergie-Standard“ soll an einem Modellhaus demonstriert werden. „Niederenergiehäuser“, das sind Häuser, die nicht mehr als 70 Kilowattstunden pro Quadratmeter an Heizenergie verbrauchen, halb soviel, wie bei normaler Bauweise. Die Dresdner haben eine eigene Methode entwickelt, um den Energiebedarf eines Hauses entsprechend zu senken. Grapatin sieht daher auch den Eigennutz in diesem Projekt: „Im Westen gibt man uns keine Chance.“

Das Gebiet Kaliningrad ist aber auch ein Eldorado für Pioniere. Klaus Keimer etwa war zunächst Goldschmied im hessischen Hanau, saß dort für die CDU im Stadtrat und betrieb dann „farming in Südafrika“. Jetzt hat er sich in Gusev, nahe der litauischen Grenze, niedergelassen und macht allerlei Geschäfte. Im ehemals kaiserlichen Jagdrevier „Rominter Heide“ zum Beispiel läßt er Betuchte aus dem Westen auf Elch und Wolf anlegen. Ein anderes Projekt Keimers betrifft ein Symbol des alten Ostpreußen: In den Gebäuden des Gestüts Trakehnen will er Touristen unterbringen und natürlich Pferde. „Nur Trakehner, die hier gezogen wurden, dürfen die eine Elchschaufel als Brandzeichen tragen.“

Mit der Mafia, die, wie er sagt, „hier allgegenwärtig“ ist, wird Keimer auf seine Art fertig. Er hat ehemalige russische Offiziere als Dolmetscher angestellt, denn vor der Armee habe die Unterwelt noch Respekt. Bei den schlecht bezahlten Milizionären sei das nicht so sicher. Aktiv sei die Mafia in allen möglichen Bereichen. Sie versuche, bestimmte Märkte zu kontrollieren, den für Benzin oder den für Elektroinstallationen zum Beispiel.

Außer um seine eigenen Geschäfte kümmert sich Keimer um Rußlanddeutsche. Tausende von deutschstämmigen Umsiedlern vor allem aus Kasachstan oder Kirgisien haben sich in den vergangenen Jahren hier niedergelassen. Die Gebietsverwaltung spricht von 4.000, Vereinigungen der Rußlanddeutschen wie die „Freiheit“ von über 20.000. Da viele der Rußlanddeutschen mit Russen verheiratet sind, fällt die Zuordnung oft schwer. Daß die Zahlen so weit auseinander liegen, hat aber auch noch einen anderen Grund. So hat die „Freiheit“ wiederholt gefordert, das Gebiet Kaliningrad zu einer autonomen Republik der Rußlanddeutschen zu machen. Dabei sitzen die Ängste vor den Deutschen hier ohnehin tief genug. „Wollt ihr das jetzt wieder haben?“

Nachdem Kaliningrads Präsident Matotschkin die Umsiedler zunächst durchaus willkommen geheißen hatte, ist man inzwischen vorsichtiger geworden. „Wir werden eine Quote festlegen müssen“, sagt Irina Kusnezowa. Die Gebietsverwaltung vermeidet alles, was Anhaltspunkte für eine „Re- Germanisierung“ des Gebiets geben könnte. „Re-Germanisierung“ mit diesem Schlagwort vergrätzen diverse rechtsradikale Organisationen aus Deutschland die Kaliningrader. Sie haben hier auf der Suche nach deutschem Blut und Boden die Rußlanddeutschen für sich entdeckt. Zu ihnen gehören Dietmar Munier mit seiner „Initiative deutsches Königsberg“ und der Neonazi Manfred Röder. Die Rechten unterstützen nur deutschstämmige Umsiedler, so helfen sie zum Beispiel 140 Familien, die sich als Bauern selbständig gemacht haben. All das, um das ehemalige Ostpreußen wieder zu einer deutschen Provinz zu machen.

Klaus Keimer hat seine Erfahrungen mit diesen Leuten gemacht. Von den Ostpreußenverbänden einmal abgesehen, tummle sich auch die DVU dort, und die Viking-Jugend komme zum sommerlichen Aufbaulager. Es gebe auch eine „Exilregierung Ostpreußen“, die mit einer Delegation bei der Gebietsverwaltung aufmarschiert sei und gefragt habe, „wann die Russen denn endlich abziehen“. Die Gebietsverwaltung unternimmt wenig gegen diese Umtriebe. Röder und Munier wurde inzwischen immerhin die Einreise verweigert.

CDU-Abgeordnete für ein multikulturelles Königsberg

Bei seiner Unterstützung der Rußlanddeutschen grenzt sich Klaus Keimer deutlich von den Rechten ab. Er arbeitet mit der Bundesregierung zusammen, die die Rußlanddeutschen im Kaliningrader Gebiet im Rahmen „erweiterter humanitärer und landwirtschaftlicher Hilfe“ unterstützt. Genossenschaften stehen im Mittelpunkt. So werden immer mehreren Neubauern zusammen Traktoren und andere Maschinen zur Verfügung gestellt. Dabei wird aber sorgfältig darauf geachtet, daß auch Russen von dieser Hilfe profitieren. „Mindestens 30 Prozent der Hilfe gehen an Russen, Kaliningrad soll russisch bleiben, es soll ein Tor zum russischen Markt sein.“

Die Zuwanderer dürften das Gebiet nicht überlasten, fordern auch vier Unions-Bundestagsabgeordnete, Wilfried Böhm, Hartmut Koschyk, Friedbert Pflüger und Christian Schmidt. In einem im Januar veröffentlichten Papier haben sie Kaliningrad als multikulturelles Modell gefeiert. Außerdem verlangten sie, die Militärpräsenz im Gebiet zu reduzieren und noch bessere Bedingungen für die Wirtschaft zu schaffen. Daß Kaliningrad zu Rußland gehört, wird nicht in Frage gestellt. Der Text spricht dennoch notorisch von „Königsberg“ und „Ostpreußen“.

Von der deutschen Vergangenheit geprägt fühlen sich aber auch viele Russen. So kamen die Eltern des Fernsehjournalisten Jewgenij Hritschenko kurz nach dem Krieg in das entvölkerte Gebiet. Wie Tausende von anderen aus der ehemaligen Sowjetunion wurden sie dorthin verpflichtet, um ihre Ausbildung „abzuarbeiten“. Hritschenko: „Ich bin aufgewachsen mit den Ziegeldächern, den Alleen und den gotischen Kirchen anstelle von russischen Basiliken mit Zwiebelkuppeln.“ Dem neuen Interesse für die Vergangenheit entspricht ein neues Engagement für ihre „Konservierung“. Der Dom, an dessen Ruine noch Brandspuren von den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs zu erkennen sind, wird wieder aufgebaut. Und das Kantgrab an der Seite des Doms ist mit roten und weißen Nelken geschmückt. Der Philosoph Immanuel Kant, der Königsberg sein Leben lang nie verlassen hat, könnte bald auch den stalintreuen ersten Ministerpräsident der Sowjetunion Michail Kalinin als Namenspatron für seine Heimatstadt ablösen. „Kantstadt“ statt Kaliningrad wird ernsthaft diskutiert. Ob der Handelsgeist, den Kant einst als Garant für den „ewigen Frieden“ rühmte, hier dominieren wird, ist noch nicht ausgemacht, auch wenn Admiral Jegorew vollmundig verspricht: „Die Militärpräsenz im Kaliningrader Gebiet wird in den kommenden Jahren weiter reduziert.“ Noch immer prägt die Armee das Gebiet, und Rußland wird auf seinen einzigen ganzjährig eisfreien Ostseehafen in Baltijsk nicht verzichten wollen. Erst in der vergangenen Woche kündigte Verteidigungsminister Gratschow an, Kaliningrad zu einem „Sonderverteidigungsgebiet“ zu machen.

Begründet wird die Militärpräsenz nicht zuletzt durch das gespannte Verhältnis zu Litauen und den anderen baltischen Republiken. „Die baltischen Staaten suchen Streit mit uns.“ Jegorew betont aber, man werde sich nicht provozieren lassen. Kaliningrad ist auch abhängig von seinen Nachbarn. Siebzig Prozent der Energieversorgung kommen aus oder über Litauen. Daß sich Polen und Balten durch die hochgerüstete Enklave bedroht fühlen, will der Admiral nicht gelten lassen.

Wer in Rußland reich werden will, baut weniger auf Produktion, sondern auf Handel. Wie das funktioniert, erläutert Sergej Seleznijew. Er ist Student und hat bei seinem Bruder in den Ferien gutes Geld verdient. Dieser fuhr selbst in die frühere Sowjetrepublik Moldova, erstand dort Tabak und brachte ihn in die Zigarettenfabrik Kaliningrads. Sergej verkaufte diese Zigaretten direkt auf der Straße, mit 500 Prozent Gewinn.

Trotz des Erfolgs sieht Seleznijew wenig hoffnungsvoll in die Zukunft. „Daß meine Tochter eine Ausbildung im Westen bekommt, ist alles, was ich noch will im Leben“, sagt der Fünfundzwanzigjährige. Jewgenij Hritschenko sieht das anders. „Es muß vorwärtsgehen und es wird. Schritt für Schritt. Ich weiß, wie es in Deutschland aussieht, aber auch, wie es hier vor zwei Jahren aussah.“