Ewiger Abi-Stress: Wie viel Turbo darf‘s denn sein?
Der Norden streitet über die Schulzeit: In Kiel und Hamburg wollen Eltern das Turbo-Abi bremsen, in Niedersachsen soll's ein runder Tisch die Nöte lindern.
Es bestimmt schon seit Jahren den Alltag tausender Kinder und Familien, und doch wird derzeit kein schulpolitisches Thema so heißt diskutiert wie Turbo-Abitur. In Hamburg zittert der SPD-Senat vor einer Eltern-Volksiniative „G9-Jetzt-HH“, die die Schulzeitverkürzung an Gymnasien zurückdrehen will. Hat sie Erfolg, wird es ausgerechnet zur nächsten Wahl eine Volksabstimmung geben. Auch in Schleswig-Holstein sammlen Eltern Unterschriften für das „Y-Modell“, so heißt eine Schule, die beides anbietet, den achtjährigen (G 8) und den neunjährigen Weg zum Abitur (G 9). In beiden Ländern bläst den Eltern politisch starker Wind entgegen.
Ihre Forderung nach mehr Lernzeit für ihre Gymnasiumskinder, so der Vorwurf, schadet dem Konzept des Zwei-Säulen-Modells. Denn an den Gemeinschaftsschulen beziehunsgweise Stadtteilschulen, die anders als Gymnasien für alle Kinder offen sind, wird der neunjährige Weg zum Abitur weiter angeboten. So ist auch Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Waltraut Wende (parteilos) grundsätzlich für eine klare Trennung: G 8 am Gymnasium, G 9 neun in den Gemeinschaftsschulen. Dass damit eine Stärkung der Gemeinschaftsschulen einhergeht, ist gewollt. Daran hatte ihr Vorgänger, FDP-Bildungsminister Ekkehard Klug, weniger gedacht. Er hatte gerade erst erlaubt, dass Gymnasien sich für klassische G 9 entscheiden konnten und sogar beide Varianten unter einem Dach erlaubt und damit das „Y-Modell“ kreiert.
Doch Wendes Entwurf für eine neues Schulgesetz, das im Juni in den landtag soll, rief sofort die G9-Verfechter auf den Plan. Gegen den „Schulkanibalismus“ wettert deren lautstärkste Vertreterin, Astrid Schulz-Evers vom „Schleswig-Holsteinische Elternverein“, die im Rahmen der „Elterninitiative G9-jetzt!“ eine Volksinitiative gegen das Turbo-Abi gestartet hat. Inzwischen ruderte die Ministerin etwas zurück und hat zugesagt, dass es für die „Y-Gymnasien“, an denen G8 und G9 gleichzeitig angeboten werden, Bestandsschutz gibt.
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Ähnlich sind die Fronten in Hamburg. Dort warnte SPD-Schulsenator Ties Rabe, der „Schulfrieden“ sei in Gefahr, nachdem die Mutter und Journalistin Mareile Kirsch am 15. Mai mit einer Elterntruppe die Volksinitaive „G9-Jetzt-HH“ startete. 6000 Unterschriften für eine Petition hatte sie da schon zusammen. Die für die erste Hürde im dreistufigen Volksgesetzgebungsverfahren nötigen 10.000 Unterschriften gelten als sicher. Die Initiative wird ernst genommen, weil es sich um Kreise handelt, die bereit 2010 die Primarschule stoppten. Um so massiver die Warnungen von Politik und Verbänden. Wer jetzt G 9 wolle, riskiere „den Zusammenbruch einer endlich gefundenen verlässlichen Schulstruktur“, warnte jetzt die Vereinigung der Gymnasialschulleiter, nachdem die Grüne Schulpolitikerin Stefanie von Berg laut darüber nachgedacht hatte, in jedem Bezirk eine solche Schule zu erlauben. „Ich habe das Gefühl, ich bin im Krieg“, sagt Mareile Kirsch.
Anders verläuft die Debatte in Niedersachsen, wo die abgewählte CDU-Regierung den Fehler beging, auch den Gesamtschulen das G 8 aufzuzwingen, und damit breiten Anti-Turbo-Abi-Widerstand entfachte. Im Wahlkampf hatten SPD und Grüne einmütig versprochen, dies zu stoppen. Eine entsprechende Gesetzinitiative legten sie gleich nach Regierungsantritt vor.
Bei den Gymnasien lässt man sich mehr Zeit: Für diesen Montag lädt Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) Schüler-, Lehrer- und Elternverbände zu einem Dialog zur Zukunft der Gymnasien ein. Ob die Gymnasien zum G 9 zurückkehren oder ob es beim G 8 bleibt, soll dann diskutiert werden.
„Ergebnisoffen“, wie eine Sprecherin betont. Niedersachsens neue Kultusministerin wolle den Weg zum Abitur am Gymnasium stressfreier gestalten, zur Frage aber, ob dieser Weg nun zwölf oder 13 Jahre dauern soll, sei sie „nicht festgelegt“. Noch im Wahlkampf hatte Heiligenstadt sich für ein System mit G 9 an Gesamtschulen und G 8 am Gymnasium ausgesprochen, so wie die SPD-regierten Nachbarländer es praktizieren.
Die Grünen dagegen hatten stets gefordert, den Gymnasien selbst die Wahl zwischen G 8 und G 9 zu überlassen. Im Koalitionsvertrag einigte man sich dann darauf, die Frage „im Dialog mit den Beteiligten“ zu erörtern.
Beim Dialogauftakt am Montag will Heiligenstadt zunächst Argumente „aufnehmen“, im Anschluss sollen sie Fachforen weiter erörtern. Eine Prognose, wann eine Entscheidung über das G 8 fällt, nennt ihr Ministerium nicht. Aber es gilt als denkbar, dass das Turbo-Abi fällt.
Die Positionen bei den Beteiligten sind so weit nicht weit auseinander. Bei einigen hat sich auch die Stimmung gewandelt. So fordert der eher konservative Philologenverband das G 9 zurück - seit dem rot-grünen Wahlsieg. Davor hatte er die Schulreformen von Schwarz-Gelb stets mitgetragen, inklusive Turboabi. Der Landesschülerrat dagegen spricht sich für G 9 an Gesamtschulen und G 8 an Gymnasien aus - bei „verbesserten Rahmenbedingungen“.
Niedersachsens Schulleiterverband mahnt unterdessen einen „einheitlichen Weg zum Abitur am Gymnasium“ an. Dass der wieder nach G 9 erfolgt, hält die Vorsitzende Brigitte Naber für „vorstellbar“. Zugleich hätten sich viele Schulen auf das G 8 eingestellt und hielten es mit geänderten Lehrplänen „für machbar“. Und beim Landeselternrat betont man, „offen“ ohne feste Forderungen in den Dialog zu gehen.
Die Lehrergewerkschaft GEW warnt vor einem Mischmodel G 8- und G 9-Gymnasien, das würde zu einer Hierarchsierung führen. Statt dessen tritt die Gewerkschaft konsequent für die Abschaffung des Turbo-Abis ein. „Wir können nicht sagen, G 9 ist besser, deswegen kriegen es nur die Gesamtschulen und die Gymnasien müssen leiden“, sagt der Landesvorsitzende Eberhard Brandt.
Die Gesamtschulen im Land seien beliebt bei den Eltern wegen des pädagogischen Profils. „Die brauchen diesen künstlichen Vorteil nicht“.
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