Euthanasie im Dritten Reich: Traudis Erben
Als die Forscherin sich meldet, ist es, als käme sie zurück: Gertraude, das behinderte Kind, das in einer Heilanstalt der Nazis starb. Familie Küchelmann muss jetzt ihre Geschichte neu erzählen.
Wenn das Leben einer dieser samtweichen Familienfilme wäre, die jetzt, Ende Dezember, im Fernsehen laufen, dann würde Hans-Christian Küchelmann diesmal mit seinen Eltern Weihnachten feiern. Sie würden in dem kleinen Haus in Bremen Horn-Lehe im Wohnzimmer sitzen, auf den Sesseln mit beigem Plüschbezug. Gegen neun würde seine Tante aus Berlin anrufen und alle schön grüßen lassen. Von seiner anderen Tante, die nur drei Jahre alt wurde, stünde ein Foto auf der Kommode mit den Geschenken.
Aber das Leben ist kein Film. Hans-Christian Küchelmann hat, seit er sechzehn war, nicht mehr mit seinen Eltern Weihnachten gefeiert. Er hasst Weihnachten und auch die Dinge, die in den vergangenen Monaten passiert sind, ändern daran nichts.
Achtet man aber auf die leiseren Zeichen, darauf, dass es nicht mehr verbittert klingt, wenn Hans-Christian Küchelmann von den Heiligabenden seiner Kindheit spricht, merkt man doch, dass sich ein paar Dinge zurechtgerückt haben in der Familie Küchelmann. Durch das, was seit dem Anruf passiert ist.
Sie forsche gerade zu Kindereuthanasie im Nationalsozialismus, hat die Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht damals, im Sommer 2009, am Telefon gesagt. In einem Archiv in Hannover habe sie Akten von 31 behinderten Bremer Kindern gefunden, die zwischen 1942 und 1945 in der sogenannten Kinderfachabteilung Lüneburg gestorben sind, höchstwahrscheinlich ermordet wurden. Dabei sei ihr der Name Gertraude Küchelmann aufgefallen. Ob das etwas mit seiner Familie zu tun haben könne?
Hans-Christian Küchelmann sitzt in seinem Büro zwischen Schädeln von Mammuts und Menschen, als er Gerda Engelbracht zuhört. Sein Beruf ist es, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Er ist Paläonthozoologe und untersucht Knochen. Er kann etwa anhand einer Plastiktüte mit brauner Menschenmasse feststellen, um welchen Säugling es sich einmal gehandelt hat.
Ja, sagt Hans-Christian Küchelmann. Traudi. Das ist meine Tante. Als er auflegt, schafft er es den ganzen Tag nicht mehr, sich zu konzentrieren.
"Plötzlich waren da diese Akten. Ich habe gemerkt, wie mir das einen totalen Kick gibt", sagt Hans-Christian Küchelmann, er sitzt wieder in seinem Büro, einen Sommer später. "Kick ist nicht der richtige Begriff", sagt er. "Geschockt ist auch nicht der richtige Begriff." Hans-Christian Küchelmann schiebt den Stuhl zurück, steht auf, geht zum Kopierer, zur Kaffeemaschine, wieder zurück. Ganz leicht wippt er auf seinen Turnschuhen.
Er ist Ende vierzig, aber wirkt wie Mitte dreißig. Kapuzenpullover, silberne Ringe in den Ohren. Seine Freunde nennen ihn Igel. Wenn er die dichten Borsten auf seinem Kopf nicht schwarz nachfärben würde, wären viele Haare schon grau.
Hans-Christian Küchelmann wollte schon lange herausfinden, was damals mit seiner Tante geschehen ist. Er wusste, dass sie starb, 1942, im Alter von drei Jahren, an einem frühen Novembermorgen in der Kinderfachabteilung. Keine 24 Stunden nachdem ihre Mutter sie dort abgeliefert hatte. Und dass sie eine Behinderung hatte.
Das Rätsel vom plötzlichen Tod des Mädchens Gertraude ist auch das Rätsel von Hans-Christian Küchelmanns Familie. Es ist sein persönliches Rätsel, weil in ihm alle Stränge der Vergangenheit zusammenlaufen. Die Ereignisse trugen dazu bei, dass sein Vater so streng mit ihm war. Dass seine andere, jüngere Tante, eine Achtundsechzigerin, ihn in seiner Rebellion unterstützte. Dass er selbst etwas von beiden in sich trägt. Von den Beschädigungen der Menschen durch die Geschichte.
Vor Kurzem hat Hans-Christian Küchelmann sich mit Kollegen darüber unterhalten, ob er etwas herausfinden könnte, wenn er die Urne seiner Tante aus dem Familiengrab des Bremer Friedhofs ausgraben ließe. Vielleicht sind Spuren von überdosierten Medikamenten in der Asche. Aber Hans-Christian Küchelmanns Methoden stoßen in dieser Sache an ihre Grenzen. Weil es mehr um Erzählungen geht, als um Fakten.
Dabei lassen sich viele Details aus dem Leben des Mädchens Gertraude Küchelmann rekonstruieren. Einiges steht in den Akten, die die Forscherin Gerda Engelbracht gefunden hat. Anderes hat Hans-Christian Küchelmanns Großmutter früher erzählt, wissen sein Vater, seine Tante. Zusammen fügen sich die Fragmente zu einer Geschichte.
Hans-Christian Küchelmanns Großmutter, sie hieß mit Vornamen Martha, wollte 1938 nicht schon wieder schwanger werden. Ihr erster Sohn war knapp drei Jahre alt und sie bekam gerade erst ein wenig Freiheit zurück. Ihr Mann, lange schon Mitglied der NSDAP, arbeitete zum ersten Mal in verantwortlicher Position. Die Fahrten mit "Kraft durch Freude" waren ihre ersten gemeinsamen Reisen; ihre schönste Zeit, erzählte Martha Küchelmann den Kindern später.
Dann doch wieder ein dicker Bauch. Im siebten Monat wuchtete Martha Küchelmann Schränke, machte Frühjahrsputz. Gertraude Küchelmann, genannt Traudi, kam zwei Monate zu früh zur Welt. Ein hübsches Baby, blonde Locken, kleiner, ernster Mund. Doch bald stellte der Arzt fest, dass sie sich nicht so entwickelte wie andere Kinder.
Die Mediziner nannten es die "Little'sche Krankheit", wahrscheinlich eine spastische Lähmung. Traudi lernte nicht laufen und sprechen, ihre Muskeln verkrampften sich plötzlich, immer wieder. Trotzdem war sie Teil der Familie. Sie bekam Bilderbücher mit dem Stempel "Traudi Küchelmann". Wenn der Vater die Haustür aufschloss, hörte Gertraude es vor allen anderen.
Aber im Krieg wurde das behinderte Kind eine Last. Der Vater war weg, an der Ostfront. Nachdem im Bremer Haus der Familie die erste Bombe bis in den Keller durchgeschlagen war, musste Martha Küchelmann mit den beiden Kindern fast jede Nacht in einen dreihundert Meter entfernten Bunker gehen. Alarm, Aufstehen, Traudi anziehen, in den Kinderwagen heben, auf die dunkle Straße. Der fünfjährige Sohn musste allein zurechtkommen.
Als der Vater im Kriegsurlaub nach Hause kam, ging er zum Gesundheitsamt, um sich nach einem Heim für Gertraude zu erkundigen. Es war 1941, ein Jahr zuvor hatte Hitler den sogenannten Euthanasie-Stopp ausgesprochen: Die Ermordung von behinderten und psychisch kranken Erwachsenen in Gaskammern sechs deutscher Städte wurde auf öffentlichen Protest von Kirchenvertretern hin abgebrochen. Der Leiter des Gesundheitsamtes, mit dem Gertraudes Vater damals sprach, wusste, dass heimlich, aber gut geplant weitergemordet wurde. Überall in Deutschland entstanden an Heil- und Pflegeanstalten gerade Kinderfachabteilungen.
Wenn Beamte und Ärzte in ihren Briefen schrieben, behinderte Kinder sollten dort behandelt werden, stand Behandlung für Ermordung.
Auf Empfehlung des "Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" brachte Martha Küchelmann ihre Tochter in die Kinderfachabteilung Lüneburg. Ihr Bruder, ein SS-Mann, begleitete sie auf dem Weg. Für Traudi hatte sie wie angeordnet zwei Kleider, vier Hemden, vier Paar Strümpfe, zwei Paar Schuhe, ein Paar Pantoffeln, einen Kamm, einen Mantel und fünf Taschentücher eingepackt. Ein Taschentuch zu wenig, notierte die Schwester bei der Aufnahme. Auf den Papieren der Stempel: "Erbbiologisch defekt."
Martha Küchelmann war noch keinen halben Tag wieder in Bremen, als sie ein Telegramm bekam: "Gertraude heute früh 4,15 41 Fieber überraschend eingeschlafen. Zwecks Klärung des plötzlichen Todes erbitte Genehmigung zur Sektion. Sofort Geburtsurkunde senden Heilanstalt." Todesursache: beginnende beidseitige Lungenentzündung, Nierenbeckenentzündung, leichter Darmkatarrh.
"Da ist immer noch jede Menge Wut. Ich habe sie ja nie persönlich gekannt. Trotzdem will ich wissen, wer da welche Entscheidungen getroffen hat. Ich will jemanden haben, auf den ich meine Wut projizieren kann." Hans-Christian Küchelmann schaut aus seinem Fenster auf die Industriebrache am ehemaligen Bremer Überseehafen. Dort drüben, in den Räumen eines alten Speichers, wird er heute zu einem Theaterabend gehen, den behinderte und psychisch kranke Menschen gestalten.
Hans-Christian Küchelmann weiß selbst nicht, woher seine Wut kommt. Es ist auch Wut darüber, dass er die Geister der Vergangenheit weiter mit sich herumtragen muss.
Im Jahr 2010, nach 68 Jahren, sind die Akten vom Tod Gertraude Küchelmanns plötzlich da. Die Familie Küchelmann muss lernen, sich die eigene Geschichte neu zu erzählen, anders.
In Hans-Christian Küchelmanns Küche sehen sich im Frühjahr 2010 nach Jahren sein Vater und seine Tante wieder. Der Vater wischte den Tisch ab, bevor er die Unterlagen darauflegt. Die Tante klammert ihre Hand um die Teetasse. So sitzen sie stundenlang. Er holt aus, doziert, erklärt. Sie wird unruhig, trappelt mit den Fingern auf die Tischplatte, will die Papiere sehen. Aber sie hört zu. Und er stellt ihr Fragen. Sie reden. Wieder.
Zweifel an der offiziellen Todesursache hatten die beiden schon immer. Aber sie sagten nicht: "Ich hatte eine Schwester, die ermordet wurde", sondern: "Ich hatte eine Schwester, die unter seltsamen Umständen gestorben ist." Hans-Christian Küchelmanns Großmutter sagte nur: "Ich hatte eine Tochter, die früh verstarb."
Hans-Christian Küchelmann, genannt Igel, will jetzt seine Vergangenheit aufarbeiten.
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Auf die Rückseite eines Fotos aus dem April 1942, auf dem sie Gertraude im Arm hält, schrieb sie: "Hier auf diesem Bilde könnt ihr so recht erkennen, wie krank unser Traudilein war." Ihre Version, ihr Selbstschutz. Die Schuldgefühle nagten still. Bis zu ihrem Tod vor zehn Jahren hing ein Foto von Gertraude über Martha Küchelmanns Bett.
Die 32 Seiten, die die Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht gefunden hat, belegen keinen Mord. Die Tötung behinderter Kinder wurde nicht dokumentiert, die Ärzte handelten ohne offizielle gesetzliche Grundlage auf Basis eines Geheimerlasses von Hitler. Wegen all der Fakten, die Gerda Engelbracht zusammengetragen hat, ist sie sicher, dass Gertraude Küchelmann getötet wurde. Sie vermutet, dass sie eine Überdosis Beruhigungsmittel bekam. Die meisten Kinder wurden durch wochenlange Überdosierung des Betäubungsmittels Luminal langsam getötet. Es löste bei vielen Lungenentzündung aus.
Historiker schätzen, dass allein in Lüneburg zwischen 1941 und 1945 über 300 Kinder getötet wurden. Mehr als 5.000 waren es in ganz Deutschland. Der Leiter der Lüneburger Kinderfachabteilung, Willi Baumert, ein überzeugter Anhänger des Euthanasie-Gedankens, wurde nach dem Krieg Direktor des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Königslutter und Vorsitzender des Verbandes der niedersächsischen Anstaltsärzte und Psychiater.
Willi Baumert hat Getraudes Todesursache festgestellt. So steht es in ihrer Akte.
Dass Forscher noch heute Dokumente wie diese finden, liegt auch daran, dass das Thema bis vor dreißig Jahren kaum diskutiert wurde. Ein Interessenverband - der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten - gründete sich erst Ende der Achtzigerjahre. Noch 1949 hatte das Hamburger Landgericht beschlossen, eine Hauptverhandlung gegen mehrere der Kindermorde Beschuldigte nicht zu eröffnen. Sie kommen zu dem Schluss, "daß die Frage der Verkürzung lebensunwerten Lebens zwar ein höchst strittiges Problem ist, daß ihre Durchführung aber keinesfalls eine Maßnahme genannt werden kann, welche dem allgemeinen Sittengesetz wiederstreitet". Dem klassischen Altertum sei "die Beseitigung von lebensunwertem Leben eine völlige Selbstverständlichkeit" gewesen. Man könne nicht sagen, dass die Ethik Platons oder Senecas "sittlich tiefer steht als die des Christentums".
Lebensunwertes Leben. Die Worte hallen in der deutschen Gesellschaft bis heute nach.
Bei einer Euthanasie-Ausstellung in Bremen, in der im Frühjahr auch Gertraudes Geschichte dargestellt wurde, hörte Hans-Christian Küchelmann einen Vortrag von zwei Brüdern, deren behinderter Onkel im Nationalsozialismus ermordet wurde. Die beiden wurden Wissenschaftler, machten Karriere und spürten diesen Zwang, sich wieder und wieder beweisen zu müssen, ihre Lebensberechtigung immer neu zu belegen. Die frühe Erfahrung, Menschen müssten etwas leisten, um lebenswürdig zu sein, habe in ihnen weitergearbeitet.
Eins der wenigen Dinge, die Hans-Christian Küchelmann, sein Vater und seine Berliner Tante, die nach Gertraudes Tod geboren wurde, gemeinsam haben, ist, dass sie alle Workaholics sind. Sowohl sein Vater als auch seine Tante könnten schon im Ruhestand sein. Sein Vater ist es sogar - offiziell. Aber beide arbeiten weiter, in Vereinen, Initiativen. Wenn Hans-Christian Küchelmann seine Fristen überzieht, ist da manchmal eine Härte in ihm, die er sonst nicht kennt. Gegen sich selbst. "Ich denke dann, Menschen, die Fristen nicht einhalten, sollten bestraft werden", sagt er. Es kann sich anfühlen wie ein Erbe.
Während die Küchelmanns sich ihre Familiengeschichte neu erzählen, sind sie gezwungen, über ihre eigenen Rollen darin nachzudenken. Über die Frage, was Hans-Christian Küchelmann krank gemacht hat.
Da ist dieses verstrickte Netz von Beziehungen zwischen seinem Vater, der Tante. Die beiden sind ein Bruder und eine Schwester, so unterschiedlich, dass es weh tut, dass es ihnen weh tut. Der eine ein Kriegskind, das früh Verantwortung übernehmen musste für seine behinderte kleine Schwester. Die andere eine Nachgeborene, als Ersatz für die tote Traudi gezeugt. Beschützt, bis sie es nicht mehr aushielt.
Hans-Christian Küchelmann steht dazwischen. Mit der Genauigkeit seines Vaters und dem Rebellionsgeist seiner Tante, die in der Pubertät seine Vertraute wurde. Er ist Biologe. Und Punk.
Zwischen Gerlinde Lill, Hans-Christian Küchelmanns Tante, 66, und seinem Vater, der Hans-Walter heißt, 74, liegen nur acht Jahre Altersunterschied und doch ein Generationenwechsel. Er, der ältere, gehört zur sogenannten skeptischen Generation. Kriegskinder, die - oft vaterlos - früh erwachsen werden mussten, die streng mit sich und anderen wurden. Sie, die Jüngere, ist eine Achtundsechzigerin. Nach dem Krieg geboren, hatte sie nicht die Traumata der Älteren zu verarbeiten und wunderte sich irgendwann darüber, warum alle Menschen um sie herum so seltsam waren, schufteten, schwiegen. Da begann sie aufzubegehren, zu fragen. Sie wollte sich nicht länger behüten lassen.
Beide heben sie die Vergangenheit auf. Sie in ihrer Altbauwohnung in Berlin Steglitz, er in seinem Einfamilienhaus in Bremen Horn-Lehe. Hans-Walter Küchelmann wollte am liebsten im Hochzeitsanzug seines Vaters heiraten, der nicht aus dem Krieg zurückkehrte. Gerlinde Küchelmann hat alle Kinderbücher und Puppen aufgehoben, auch die, die sie als Kind Traudi genannt hat. Weil die Puppe so krank aussah.
Für Hans-Walter Küchelmann blieb sein im Krieg verschollener Vater immer ein Vorbild. Die Familie sagt, selbst die Handschrift sei die gleiche. Sein Vater heißt Hans Walter, er heißt Hans-Walter, seinem Sohn hat er den Namen Hans-Christian gegeben - die "reine Küchelmann'sche Linie" nennt er das.
Nach dem Krieg war Hans-Walter Küchelmann nicht mehr nur das frühreife Kind, sondern mit knapp zehn schon der Mann im Haus. Nun war da eine andere kleine Schwester da, die bewusst in einem der letzten Fronturlaube gezeugt wurde: Gerlinde. Hans-Walter spielte den Vater. Er sparte, damit sie Rollschuhe mit Gummireifen bekommen konnte, bestimmte, welcher Rock zu kurz war.
Wenn Hans-Walter Küchelmann lange über die tote Schwester geredet hat, sagt er, unbedacht, den Satz, mit dem die Mutter das Thema immer beendet hat. Diesen gefährlichen Satz. "Vielleicht war es das Beste so." Diesen Satz, der den Gedanken der Euthanasie in sich hat. Euthanasia, griechisch: ein schöner Tod.
Hans-Walter Küchelmann treibt Gertraudes Geschichte um. Er hat als Zeitzeuge an einer Ausstellung zu Kindereuthanasie mitgearbeitet, sucht in Archiven nach Akten, trifft sich mit anderen Angehörigen.
Er überlegt, Mordanzeige zu erstatten, um durch die Ermittlungen noch mehr herauszubekommen. Mord verjährt nicht.
Und trotzdem sagt er manchmal diesen Satz: "Vielleicht war es das Beste so." Weil seine Mutter mit ihren Kräften so am Ende war. Weil Gertraude wohl auch heute nicht hätte geheilt werden können. Der Satz klingt weich, aber er ist hart und gefährlich. Zugleich ist er trotzdem auch eine Botschaft an seine Schwester: Dich hätte es sonst doch nicht gegeben.
Sie ist das gesunde Mädchen, mit Betonung auf gesund, das sich ihre Eltern gewünscht haben. Im Jahr 1944 geboren, weil Gertraude 1942 gestorben ist. Gerlinde wurde gehütet wie ein Schatz. Sie begann früh zu fragen und sich zu wehren. Nach dem Vater und den Nazis, gegen die Rockverbote und die Vorschriften. Sie heiratete vor allem, um ihren Namen loszuwerden, ließ sich wieder scheiden. Als sie sich spät entschied, noch ein Kind zu bekommen, war klar, dass sie dazu keinen Mann wollte.
Nach dem Tod ihrer Mutter band sie nichts mehr an ihren Bruder, sie telefonieren selten. Jahrelang sahen sie sich nicht.
Als er in der Küche in Bremen mit seiner Schwester über die tote Gertraude spricht, weint Hans-Walter Küchelmann. Der Vater, der seinen Sohn depressiv gemacht hat. Es muss immer erst etwas Elementareres passieren, damit wir uns begegnen und wenigstens ein bisschen tiefer einlassen, sagt seine Schwester.
Es klingt wie das Ende eines Films, ein glückliches Ende, der Anfang einer Versöhnung. Aber das Drehbuch der Realität ist oft ungeschliffener. Heute, im Dezember 2010, haben der Vater und die Tante sich schon wieder sehr lange nicht gesprochen.
Hans-Christian Küchelmann hat beschlossen, diese ganze Suppe für sich auszulöffeln, aufzuarbeiten. Und dann den Teller abzuwaschen und zurück in den Schrank zu stellen.
Er schaut jetzt genau hin. Vor ein paar Jahren, nach einer plötzlichen Trennung, sei seine Welt mit Vollgas gegen eine Mauer gerast, sagt er. Er bekam starke Depressionen, wollte sich das Leben nehmen und begann eine Therapie. "Und wie das immer so ist, kommt dabei heraus, dass das nicht das erste Mal war, dass Beziehungsmuster sich wiederholen und dass das alles eigentlich mit der Familie zu tun hat." Er bat seinen Vater, mit ihm in eine Therapiestunde zu kommen, und der willigte ein.
Hans-Christian Küchelmann fühlt sich ein Stück freier, mit jedem seiner Gedanken, den er besser versteht. Und er kann sich langsam auch mit denen versöhnen, die er nicht versteht. Im nächsten Jahr will er Gertraudes Akten selbst anschauen. Er konnte sich bisher noch nicht dazu durchringen.
In manchen Momenten ist Hans-Christian Küchelmann ganz zufrieden mit seinem Leben. Er mag seine Arbeit. Sein kleines Fischerhaus ist gemütlich, zu Weihnachten wird er mit ein paar Freunden kochen, die er seit Mitte der Neunziger immer an Heiligabend trifft. Eine Art Ersatzfamilie.
An einen Stiftebecher hat er einen Zettel geklebt: "Das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar." Hans-Christian Küchelmann will keine Kinder.
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