Europas Wissenschaftler in Unruhe: Das Sinnvakuum der Technokratie
Welche Folgen hat der Brexit für die Wissenschaft? Diese Frage stand auf der Agenda zweier Veranstaltungen in München und in Manchester.
Der Brexit fiel nicht vom Himmel. Auch wenn die knappe britische Mehrheit für den EU-Austritt für viele, selbst die Initiatoren, eine Überraschung war. Wie sich die Wissenschaft das fatale Votum in Großbritannien erklärt und welche Folgen es für die Wissenschaft selbst haben könnte, für die Insel wie den Kontinent, war in dieser Woche Thema engagierter Diskussionen in München und Manchester.
„Es ist ein Einschnitt, der gravierender nicht sein könnte“, befand der Germanist Rüdiger Görner von der Queen Mary University in London bei einer Podiumsdiskussion mit dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Peter Strohschneider, zu der die Bayerische Akademie der Wissenschaften nach München eingeladen hatte.
Vor über 30 Jahren sei er als Student nach England gekommen, „in das Musterland der Demokratie“, wo er jetzt deutsche Literaturwissenschaft lehrt. Er sei entsetzt, so Görner, in welch unredlicher Weise das Referendum vorbereitet wurde und wie dilettantisch jetzt danach verfahren werde: „Ich bin bestürzt über die Ratlosigkeit der Regierenden.“
Auch Strohschneider wertet die „manifeste Konzeptlosigkeit der Politik“ als besorgniserregend. Noch besorgter macht ihn das Zustandekommen des Votums: Der Wahlkampf für das Referendum habe eine „Veränderung der gesellschaftlichen Klimalage“ zum Ausdruck gebracht. Strohschneider: „Man kann inzwischen mit Populismus Mehrheiten organisieren; das war vor 20 Jahren nicht möglich.“ Vergleichbare Entwicklungen gebe es auch in anderen europäischen Ländern. Bei der Bundespräsidentenwahl in Österreich vor wenigen Wochen konnte der rechtspopulistische Kandidat eine gleich große Mobilisierung erreichen. „Dieser Populismus ist noch nicht gut genug beschrieben worden“, merkte der DFG-Präsident an. Ein Manko der Sozialforschung.
Das Muster der Populisten ist in allen Ländern weitgehend gleich. Zum einen wird das „Volk“ als homogene Größe idealisiert, das vor Überfremdung geschützt werden müsse, wogegen die soziale Realität komplett anders aussieht. Zum anderen werde dieser Bezug zum Volk und seinem Volkswillen als „Quelle für eine überkonstitutionelle Legitimation“ benutzt. Die Demokratie in ihrer parlamentarischen Form wird diskreditiert und ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen werden in Zweifel gezogen. So ebne die Demagogie den Weg in eine Verfassungskrise, wie es gerade in Polen geschieht.
Kampfbegriffe tauchen wieder auf
„Die polnische PIS-Partei trägt diese Spannung sogar in ihrem Namen: Recht und Gerechtigkeit“, merkte Strohschneider an. In gleicher Weise habe schon der Jurist Carl Schmitt 1927 der nationalsozialistischen Ideologie von einem höheren völkischen Recht den Weg gebahnt. Aus dieser Zeit stammen auch Kampfbegriffe, die jetzt wieder auftauchen: Altparteien und Lügenpresse. „Der Vorwurf der Lügenwissenschaft wird der nächste Schritt sein“, sah Strohschneider voraus.
Das Brexit-Votum kam auch deshalb zustande, weil sich von den jungen Wählern, um deren Zukunft es eigentlich ging, nur 30 Prozent an der Abstimmung beteiligten. Görner sieht den Hauptgrund dafür in einer Entpolitisierung des britischen Bildungswesens. Seit der Regierung Thatcher ist das Fach Sozialkunde an den Schulen nicht mehr präsent. „Es gibt in England heute ein großes Defizit an politischer Erziehung“, konstatiert der Literaturwissenschaftler. Bei seinen Studenten sei er häufig erstaunt, wie wenig sie über ihr Land wissen. Selbst ausländische Erasmus-Studenten seien besser über Großbritannien informiert als die Einheimischen. „Die politische Kultur in unserem Land ist auseinandergebrochen“, urteilt Görner. Auch die Wissenschaftsreformen der letzten Jahre hätten keine Besserung gebracht.
Peter Strohschneider, DFG
Hier sieht Strohschneider die gravierendsten Folgen: „Die Wissenschaft wird ein Legitimationsproblem bekommen – das ist die schwierigste Implikation des Brexit“, sagt der DFG-Präsident. Die anderen Folgen, etwa die ausbleibenden EU-Forschungsmittel für die britischen Unis, hält er demgegenüber für nachrangig. Der Siegeszug der technokratischen und neoliberalen Gestaltung vieler Lebensprozesse, nicht nur der Bildung, produziert in seinen Augen ein „Sinnvakuum“. Die Populisten – wissenschafts- und elitenfeindlich – „besetzen dieses Vakuum mit ihren einfach gestrickten Erzählungen“, geht Strohschneider in die Tiefe. „Technokratie und Populismus sind letztlich zwei Seiten einer Medaille.“ Wie rechtfertigte sich Berlusconi, als er die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft in Italien um 17 Prozent kürzte? „Wozu muss man Platon lesen.“
Die Brexit-Folgen waren auch das dominante politische Thema auf dem größten Wissenschaftsfestival European Science Open Forum (Esof), das alle zwei Jahre stattfindet und in dieser Woche 4.500 Teilnehmer passenderweise im britischen Manchester versammelte. Die politischen Vertreter, wie EU-Forschungskommissar Carlos Moedas, versuchten die Wogen zu glätten. So lange wie Großbritannien seinen Austritt aus der EU noch nicht vollzogen habe, könnten sich die Forscher des Königreichs weiter an den Ausschreibungen für wissenschaftliche Projekte beteiligen.
Fördertopf der EU
Satte 8,5 Milliarden Euro stehen im nächsten Jahr aus dem Förderprogramm „Horizon 2020“ zur Verfügung – und England hat in der Vergangenheit immer mehr aus diesen Töpfen herausgeholt, als es zuvor eingezahlt hatte. Gleichwohl „waren die Sorgen der Forscher auf dem Forum deutlich zu spüren“, wie der Journalist Alexander Mäder für Bild der Wissenschaft aus Manchester berichtete. „Unter den Teilnehmern findet sich vermutlich niemand, der für den Brexit wäre.“
Der britische Wissenschaftsminister Jo Johnson, Bruder des Brexit-Anführers Boris Johnson, versicherte von seiner Seite: „Wir bleiben offen für Forscher aus allen EU-Staaten.“ Zudem gebe es jenseits der EU auch noch andere internationale Forschungsverbünde, an denen sein Land weiter partizipiere. Als Beispiele nannte er den Teilchenbeschleuniger Cern und die Europäische Raumfahrtagentur ESA. „Die Botschaft ist deutlich: London kommt auch ohne Brüssel zurecht“, notierte Esof-Reporter Mäder.
In die europäische Wissenschaft ist erhebliche Unruhe eingezogen. Aktuell ist ein neuer Brandherd dazugekommen: Die Türkei. Die Beschränkungen und Reiseverbote für türkische Wissenschaftler haben auf deutscher Seite große Besorgnis ausgelöst. Er sei „tief bestürzt“ über diese Entwicklung, äußerte sich der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann.
In einem Schreiben an die Institute der MPG, in denen rund 200 Gast- und Nachwuchswissenschaftler aus der Türkei forschen, regte Stratmann an, sich durch die Ausstellung von „individuellen Dispensen“ für den Verbleib der türkischen Forscher einzusetzen. Wenn sie in ihren Heimatinstituten in der Türkei entlassen werden, sollte den Gastforschern die „Fortsetzung ihrer Arbeit mit lokalen Stipendienprogrammen möglich“ gemacht werden.
Der „Schaden, den der freie Austausch von Wissen und Erfahrung durch die Maßnahme der Türkei genommen hat“, so MPG-Präsident Stratmann, könne so ein wenig gemindert werden.
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