■ Europas Selbstmitleid ist unerträglich – Ein Einspruch aus Somalia: Wißt Ihr eigentlich, wo Ihr lebt?
Ich möchte Euch nicht die Weihnachtsfreude rauben und auch nicht Euer gutes Gewissen nach den üblichen noblen Spenden zum Fest. Aber mit Verlaub: Ich kann es nicht mehr ertragen, Euer Selbstmitleid, Euer Geschrei, Euer Getue um die große Krise, durch die ihr angeblich watet. Ich sitze hier in Somalia und verteile Hilfsgüter, sogenannte Hilfsgüter, die im Grunde nicht mal die berühmten Brosamen von Eurem Tisch darstellen. Trockenmilch, jene, von der ihr selbst abratet, Decken, teilweise zerschlissen, verfallene Medikamente. Aber das ist nicht das Schlimme.
Das Schlimme ist, daß ihr uns nun mit Sorgenfalten von Euren „eigenen“ Problemen erzählt, von der Schwierigkeit, derzeit überhaupt noch etwas loszueisen, „angesichts der Krise der gesamten industrialisierten Welt“. Dabei hantiert Ihr dann mit „Arbeitslosenzahlen“ und „Rissen im sozialen Netz“, als wäre damit bereits automatisch Not ausgedrückt, wirkliche, existentielle Not, nur weil ihr nicht mehr alles per Krankenkasse bezahlt kriegt – für Euch ist das ein Skandal. Wo doch jeder von Euch Anspruch auf zumindest elementare Sozialhilfe und, wenn's allzu hart kommt, auch auf ärztliche Behandlung hat.
Hier krepieren jeden Tag Tausende von Kindern und Alten, und wen's heute nicht erwischt, der ist morgen dran, spätestens übermorgen, wenn die eingenisteten Krankheiten auch ihn wegraffen. Die „Alten“, die ihr im Fernsehen von Fliegen zerfressen am Boden liegen seht, sehen aus wie achtzig, doch die meisten davon sind nicht mal vierzig. Wenn sie sterben, haben sie noch nicht mal Euer Vorruhestandsalter erreicht. In sechzehn Kleinstädten und Dörfern, in denen ich war, gibt es niemanden mehr, der über 35 Jahre alt ist.
Eure Krise: Ich könnte mich, wäre ich nicht hier und umgeben von Menschen mit Geschwüren, die nicht einmal mehr „Hilfe“ sagen können, so schwach sind sie, totlachen, wenn ich Euer Räsonieren über die Rezepte höre, mit der die „Weltwirtschaft“– eine der zynischsten Vokabeln Eurer Sprache, denn sie umfaßt ja nur Eure Wirtschaft, die unsere ist Euch gleichgültig – „angekurbelt“ werden muß.
Ein schreckliches Gefühl für Euch, in Pension zu gehen und nicht sicher zu wissen, ob man das Eigenheim, den Mittelklassewagen und die zweimal jährlichen Ferien im Ausland mitnehmen kann. Eure Zuwächse aus dem Osten fühlen sich bereits betrogen, wenn sie nicht ebenfalls vornehm ausgehen oder wenigstens ein Auto haben können, reine Existenzsicherung genügt nicht.
Seid Ihr Euch eigentlich bewußt, wo Ihr lebt? Werner Raith hat mir die Artikel für diese Eurotaz gezeigt, ich lese in einem von ihnen, Spaniens Ministerpräsident González habe seinen Bürgern „das Paradies versprochen“, das aber nicht gehalten, jetzt bekomme der Durchschnittspensionär nur an die umgerechnet 600 Mark monatlich. Er soll zu uns kommen mit den Waren, die er für 600 Mark kaufen kann, und sehen, daß er damit fünf vielköpfige Familien durchfüttern könnte. Sie, ja, sie würden sich im Himmel fühlen.
Foto Nr. 6
Ich will gar nicht lamentieren, daß Euer Reichtum vor allem auf dem Rücken der Länder erworben wurde, die nun so ganz am Boden liegen, Somalia, Eritrea, Mosambik, aber auch Länder in Asien. Doch anzumerken ist, welch ungeheures Pharisäertum vorhanden sein muß, wenn man die nun, wie es heißt, „anlaufende Hilfe“ auf Eurem Konto gutschreiben soll.
Drei Jahre hungert dieses Land hier schon, fünf Äthiopien, nahezu zehn Mosambik, und viele andere Länder mit Hunger habt Ihr noch gar nicht wahrgenommen. Meist Länder, in denen noch zu Lebzeiten unserer Eltern Kolonialherren zugange waren, so daß man sowohl Informationen über die Gegebenheiten hat, wie auch, als die Not ausbrach, die Wege zur Hilfe klar sein mußten. Doch nichts dergleichen. Da der Westen das Siad-Barre-Regime bis zuletzt unterstützt hat, mußte er sich wohl eine „Schamfrist“ verordnen, bis er nun in Somalia hilft. Inzwischen sind Millionen gestorben.
Ihr lebt im Paradies, wenn dies, was Ihr erlebt, wirklich Eure größten Sorgen auf der Welt sind. Buna Sandikar
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