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Europäisches Gericht weist anGefährliche Täter nicht ewig im Knast

Das Straßburger Urteil gegen die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung ist jetzt rechtskräftig. Nun kommen wohl 70 Betroffene auf freien Fuß.

Ob als Strafe oder zur Sicherung macht für die Insassen keinen Unterschied. Bild: dpa

FREIBURG taz | Deutschland muss rund 70 mutmaßlich gefährliche Straftäter aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Denn bei ihnen wurde die Verwahrung rückwirkend verlängert – und zwar nachdem der Bundestag 1998 das zugrundelegende Gesetz änderte und die zehnjährige Befristung beseitigt hatte. Diese rückwirkende Anwendung verstößt aber gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Ein entsprechendes Urteil des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte wurde jetzt rechtskräftig. Die Bundesregierung hatte bis zuletzt juristisch dagegen gekämpft.

Erfolg hatte damit der Rückfalltäter Reinhard M., der in Schwalmstadt (Hessen) einsitzt. Zuletzt war er 1986 wegen eines versuchten Raubmordes zu fünf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Eigentlich sollte die zehnjährige Verwahrung im Jahr 2001 enden, doch weil 1998 die gesetzliche Befristung aufgehoben wurde, musste M. weiter in Haft bleiben.

Der Gerichtshof für Menschenrechte sah darin das Verbot rückwirkender Strafgesetze verletzt. Die Sicherungsverwahrung hätte für bereits verurteilte Täter nicht verlängert werden dürfen, entschied im Dezember 2009 eine Kammer mit sieben Straßburger Richtern.

Bei der Sicherungsverwahrung wird ein Häftling nach Verbüßung seiner Strafe nicht entlassen, sondern muss aus Sicherheitsgründen weiter im Gefängnis bleiben. In Deutschland gilt sie nicht als Strafe, sondern als präventive Maßregel. Deshalb wurde auch das Rückwirkungsverbot nicht angewandt.

Nach Ansicht des Straßburger Gerichtshofs ist die Sicherungsverwahrung aber doch eine Strafe. Die Freiheitsentziehung entspreche in ihrer Wirkung einer Haftstrafe, die Verwahrten seien gemeinsam mit Strafgefangenen untergebracht.

Deutsche Justizpolitiker waren entsetzt. Denn die Anwendung des Rückwirkungsverbots auf die Sicherungsverwahrung dürfte einige Verschärfungen der letzten Jahre betreffen, zum Beispiel die Möglichkeit, die Verwahrung erst kurz vor Haftende anzuordnen.

Deutschland legte deshalb Rechtsmittel gegen das Straßburger Urteil ein. Über den Fall sollte die 17-köpfige Große Kammer des Straßburger Gerichtshofs entscheiden. Doch das deutsche Rechtsmittel wurde nicht einmal zugelassen.

Ein fünfköpfiger Richterausschuss in Straßburg entschied, dass sich die Große Kammer nicht mit dem Fall zu befassen braucht. M. und 70 weitere Betroffene werden nun freigelassen. (Az.: 19359/04)

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2 Kommentare

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  • KK
    Klaus Klüber

    Ich bin davon überzeugt, dass erst gar nicht so viel Menschen straffällig würden, wenn junge Menschen bereits ab dem Kindergartenalter beginnend darüber unterrichtet werden, in welch zahlreichen Facetten Gewalt und Unrecht zum Ausdruck kommt – wie sich Gewalt und Unrecht auf jeden von uns auswirkt und sie auf diesem Weg lernen könnten rücksichts-/respektvoll und gewaltvermeidend miteinander umzugehen. Attribute mit denen bereits zahlreiche Eltern überfordert sind, diese selbst einzuhalten, geschweige denn entsprechende Werte ihren Kindern zu vermitteln wissen.

     

    Aber auch unser Strafrechtssystem halte ich in diesem Sinne für Überholungsbedürftig, denn niemanden nützt es wirklich Straftäter nur eine bestimmt Zeit lang wegzusperren, um sie anschließend mit weit schlechteren Zukunftsperspektiven wieder auf unsere Gesellschaft loszulassen.

     

    Statt demnach stupide Haftstrafen sinnlos abzusitzen, würde ich ein Strafrechtssystem favorisieren, dass keinen einzigen Straftäter in die Freiheit entlässt, bevor sich diese nicht mit Hilfe von psychologisch/therapeutischen Kräften so intensiv mit ihren Straftaten und Opfern auseinandergesetzt haben, bis ihnen mit einiger Wahrscheinlichkeit eine erkennbare Einsichtsfähigkeit und Reue ihrer sträflichen Handlungen attestiert werden konnte.

     

    Damit würde sich das Thema Sicherungsverwahrung fast von selbst ergeben, bzw. würde in Wiederholungsfällen nahezu von selbst greifen.

    Denn logischerweise dürfte es Straftätern in Wiederholungsfällen immer schwerer fallen, ihren Gegenüber noch glaubhaft Reue und Einsicht nachzuweisen.

    Diese Maßnahmen würde mit Sicherheit zu einer erheblichen Verringerung von Wiederholungstaten beitragen, als auch als Beitrag genutzt werden, um Tätern soweit möglich die Gelegenheit zu geben aktiv an einer Wiedergutmachung zu beteiligen.

    Womit sowohl, Opfer –Täter/innen – als auch die gesamte Gesellschaft von einer solchen Idee meiner Ansicht nach profitieren würden.

     

    Einfach mal drüber nachdenken und sofern die Idee gefällt weiter tragen, oder wer möchte ist eingeladen in meinem angeschlossenen Forum unter http://64031.forum.onetwomax.de/topic=105562590731 dieses Thema weiter zu vertiefen.

     

    Klaus Klüber – www.ex-heimkinder.de

  • KL
    Karl Langer

    Die deutsche Sicherheitsverwahrung ist eines Rechtsstaates sowieso unwürdig. Gerichte sollen eine Strafe aussprechen und wenn diese abgelaufen ist, haben verurteilte ihre Strafe abgesessen und sind wieder frei. Entweder müssen dann die Gerichte von Anfang an höhere Strafen stellen oder eben nicht, aber es ist schon pervers einem Psychiater die Möglichkeit zu geben, einen Menschen bis ans Ende seines Lebens im Gefängnis zu lassen. Alleine das Potential oder die Prognose eine Straftat zu begehen darf in einem Rechtsstaat nicht zu einer Gefängnisstrafe führen.

     

    Danke an den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dafür dass er Deutschland wieder ein bisschen näher an die Menschenrechte geführt hat.