■ Europa und der Krieg auf dem Balkan: Die verleugnete Grenze
Wenn Sevilla oder Venedig und nicht Sibenik oder Zadar bombardiert würden, wenn Wien oder Brüssel das schreckliche Schicksal Sarajevos erleiden müßte, wenn man heute französische, deutsche oder holländische Dörfer „säubern“ würde und nicht den kleinen Marktflecken Čerska, dann würden die Europäer, ohne zu zögern, zur militärischen Intervention schreiten, „um die gemeinsamen Werte, die fundamentalen Interessen und die Unabhängigkeit der Union“ zu retten, und die Amerikaner würden sich nicht damit begnügen, über den gebeutelten Zonen Medikamente und Lebensmittel abzuwerfen.
Das Unglück Kroatiens und Bosniens besteht darin, auf der andern Seite einer Linie zu liegen, deren Verschwinden vor etwas mehr als drei Jahren die Bewohner der Alten Welt überschwenglich feierten. Westeuropa freut sich in der Tat darüber, daß Europa nicht mehr geteilt ist, aber es weist die Verantwortung zurück, die dieses neue Faktum mit sich bringt. Der Sowjetismus ist gefallen, Jalta bleibt.
Um die Tatenlosigkeit und die Verlegenheit der Zwölfergemeinschaft zu geißeln, wurde auf München verwiesen. Dieser Vergleich ist allerdings zu schmeichelhaft. Die „Münchner“ hatten wenigstens die Ausrede der Angst. Slobodan Milošević hingegen bedroht keines der Länder der EG. Sein expansionistisches Vorhaben reicht bis zur Adria, aber nicht darüber hinaus. Nicht Angst bestimmt das Handeln unserer politischen Führer, sondern purer Egoismus.
Doch leben wir nun nicht mehr in Zeiten des sacro egoismo . Diese Haltung spricht den humanitären und universalistischen Prinzipien, deren sich Europa sich so gerne rühmt, Hohn.
Wie soll man also diesen Widerspruch überwinden? Wie soll man diesen grausamen Rückgriff auf den Primat des nationalen Interesses rechtfertigen? Frankreich, das über kein Erdöl verfügt, aber über Ideen, hat das Problem gelöst.
Nachdem es das Recht auf humanitäre Einmischung erfunden hat, um angesichts der Invasion fremder Truppen in souveräne Staaten und angesichts der Eliminierung unerwünschter Völker sein politisches Versagen zu kaschieren, hat es in der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Schaffung eines internationalen Gerichtshofes verabschieden lassen. Dieser wird ein Wunder vollbringen. Er wird niemanden verurteilen, weil er sich die Mittel, die Schuldigen zu fassen, nicht verschafft, und er wird alle verurteilen, Opfer wie Täter, weil er im Unterschied zum Nürnberger Gerichtshof nicht über die Machenschaften eines kriminellen Staates zu urteilen hat, sondern, viel vager — und allein zum Zweck, den Schein von Recht und Gerechtigkeit herzustellen —, über die Verletzungen der Menschenrechte während des Krieges im alten Jugoslawien.
So kann dann das Europa der Zwölf seine verleugnete Grenze aufrechterhalten und konsolidieren und sich dabei noch schmeicheln, die Welt in die Ära der Überwindung der Grenzen, der planetaren Gerechtigkeit und der Solidarität zu führen. Alain Finkielkraut
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