■ Europa auf italienisch: Hauptsache dagegen
Meinungsumfragen ergeben: Kein anderes Land ist derart europabegeistert wie Italien. Quoten von 90 Prozent und mehr wurden erreicht, auch heute noch sind es gut 75 von 100 Italienern, die sich zu Europa bekennen. Seltsamerweise geben sie dann ihre Stimmen meist Parteien, die just dieses Europa ablehnen. In Italien hat sich der umfangreichste, blühendste Garten antieuropäischer Gruppen ausgebreitet, den der alte Kontinent aufweist. Doch, wieder seltsam, dieser Antieuropäismus segelt stets – unter europäischer Flagge.
Da sind, mächtig im Norden, die „Ligen“. Sie sind, natürlich, für Europa – nein, umgekehrt, sie sind gegen Europa, wenn ihr eigenes Land als solches auch nach „Europa“ kommt. Denn der reiche, industrialisierte finanzstarke Norden Italiens fühlt sich „mitteleuropäisch“ und in jedem Falle dem „inneren“ Ring der drei berühmten Delorsschen Kreise wirtschaftlicher Potenz zugehörig – während der Rest Italiens, nach Ligen-Einschätzung, allenfalls zum Maghreb gehört und daher ganz hinten anzustellen ist. Die Mailänder Sezessionisten möchten daher künftig als zumindest autonome Region, wenn nicht gar als „Republik des Nordens“ mit „Europa“ direkt verhandeln – ohne daß Rom da mitzureden hat.
Ein Gedanke, der, allerdings aus umgekehrten Gründen, auch am anderen Ende der Republik Gefallen findet – in Sizilien. Dorthin waren viele Gelder aus Brüssel geflossen, solange der kalte Krieg herrschte und man die Insel als „größten Flugzeugträger des Mittelmeers“ nutzen mußte. Inzwischen bleiben die Moneten aus, Sizilien ist auf dem Weg in einen Viertweltstaat. Bei solcher Gelegenheit taucht unweigerlich der alte Sezessionismus auf – und mit dem suchen derzeit offenbar die durch staatliche Repression erstmals in große Bedrängnis geratenen Mafiosi eine neue Verankerung im Volk. Ein selbständiges Sizilien könnte, analog wie die „Republik des Nordens“, autonom mit Brüssel verhandeln und so mit sanftem oder dynamitgeladenem Druck neue Gelder lockermachen.
Dann sind da die Neofaschisten. Auch sie, natürlich, für Europa. Allerdings eines im antik- römischen Gewande oder zumindest mit territorialem Hegemonialanspruch nach Art Mussolinis: Einbezogen ins Brüsseler Europa, doch gleichzeitig berechtigt zur exklusiven Wahrnahme aller von Rom reklamierten Kolonialzonen, von den küstennahen Gebieten Ex-Jugoslawiens über Albanien bis nach Abessinien und Libyen.
Ein Gedanke, der nicht nur die Neofaschisten der MSI begeistert – auch der bis 1992 amtierende sozialistische Außenminister Gianni De Michelis verfolgte diese Politik.
Heimatlos dagegen sind inzwischen Alt-Antieuropäer vom Schlage des stalinistischen Flügels der alten KP – sie haben zwar ihre eigene Partei, Rifondazione comunista (RC), doch die einstige Forderung einer Anbindung Europas nicht an den Westen, sondern an Moskau, gilt seit Gorbatschow, noch mehr aber seit Jelzins Kapitalismus-Frenetik als inopportun. Oder doch nicht? „Höchst aufmerksam“ verfolge man, so das Hauptquartier der RC, die „neuesten Entwicklungen“ seit dem Antijelzinruck in Moskau: Könnte ja sein, daß die von Schirinowski vorgeschlagene „Teilung“ Europas in ein deutsch- und ein russischbestimmtes die Chancen für ein neues Abrücken der traditionell germanenängstlichen Italiener vom Westen mit sich bringt. Werner Raith
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