Eugen Egner : Anatomie eines illustren Gastes
Die Abendgesellschaft ging auf einen Übersetzungsfehler zurück und fand im Haus der Hofschauspielerin Elmar-Hugold statt. Ich war soeben gelandet. Das Luftschiff lag in der Dachkammer wie ein Flugboot, alle Dienstwellengeräte an Bord waren ausgeschaltet. Nach dem Aussteigen lief ich, eine elektromagnetische Welle nachahmend, in das prachtvolle Gesellschaftszimmer hinab, wo mich die Gastgeberin mit einer isolierten Drahtspule empfing.
Es drängten sich schon zahlreiche fremde Menschen auf dem Parkett. Flüchtig betrachtet, schienen alle die Köpfe anderer fremder Menschen zu haben. Viele lachten, wie um Bretter zu schneiden. Die Gastgeberin sagte nichts, und genau das waren auch meine Worte. Ich fügte sogar noch hinzu: „Sie sprechen mir aus der Seele.“ Daraufhin schaltete sie lächelnd eine Apparatur ein, und zwischen den anwesenden Personen sprangen kleine grüne Funken über.
Von allen unbeachtet, verfolgte ich das Geschehen mit leidenschaftsloser Nüchternheit. Zwischendurch drückte ich auf verschiedene Tasten an dem kleinen schwarzen Kasten für die Einstellung vieler Dinge des Lebens. Damit aktivierte ich unbeabsichtigt einen Gong, der die Ankunft eines illustren Gastes signalisierte. Die Menge der Versammelten teilte sich, und durch die entstehende Gasse schritt eine kleinwüchsige Gestalt. Sie trug einen mantellangen, mit Tressen und Goldschnüren reich behangenen dunkelroten Uniformrock sowie schwarze Lederstiefel. Ihr Kopf hatte ein extrem eigentümliches Aussehen.
Sosehr ich mich auch bemühte, gelang es mir nicht, das Gesicht visuell zu erfassen. Alles, was ich deutlich sehen konnte, waren zurückgekämmte dunkle Haare und darunter zwei unterschiedlich große, ganz und gar nicht auf gleicher Höhe befindliche Ohren. Der schmale Bereich zwischen Letzteren schien nur ein Auge und weder Nase noch Mund zu enthalten. Allerdings veränderte sich dieser Eindruck laufend, sodass – zumindest in meiner Wahrnehmung – ein Unschärfe erzeugendes Pulsieren und Glitzern entstand.
Je länger ich das anatomische Rätsel betrachtete, desto mehr Ungereimtes fiel mir auf. Der ohnehin abwegig anmutende Gnom wirkte zudem optisch weiter entfernt, als er tatsächlich war. Dadurch erweckte er den Eindruck, nicht demselben Maßstab anzugehören wie seine direkte Umgebung. Allein sein rechter Arm, der deutlich zu groß für ihn war, entsprach den allgemeinen räumlichen Gegebenheiten. Es drängte sich der Gedanke auf, dieser Arm sei ein Bindeglied zwischen zwei unterschiedlichen Größendimensionen.
Die Gastgeberin flüsterte mir zu: „Sein Trick besteht wahrscheinlich darin, dass er durch einen Schlauch mit einer anderen Welt verbunden ist. Die Verkündigung der Jungfrau Maria soll ja auch durch einen Schlauch erfolgt sein.“ Versuchsweise drückte ich wieder diverse Tasten an dem kleinen schwarzen Kasten. Es geschah aber nichts.
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