Essayfilm von Emigholz: Wo hört das Gebäude auf?
Heinz Emigholz hat einen neuen Film für die Serie „Architektur als Autobiografie“ gemacht: Über die französischen Architekten Perret.
Zeitgleich mit den ersten Erfolgen der kommerziell orientierten, vor allem in München ansässigen Regisseuren des Neuen Deutschen Films begann in den sechziger Jahren eine Generation junger Avantgardefilmer, eine eigene, radikalere Idee von Autorenkino zu entwerfen.
Damals standen sie im Schatten der Spielfilmregisseure, längst aber wäre es Zeit für eine Umwertung: Die Essay- und Experimentalfilme, die in den letzten Jahrzehnten vor allem in Hamburg und Berlin entstanden sind, haben sich als folgenreicher erwiesen als die Spielfilme der Münchner, als anschlussfähiger in der sich zur Kunst hin entgrenzenden Filmszene der Gegenwart.
Und vor allem haben zumindest einige der Avantgardisten Produktionsformen gefunden, die ihnen eine kontinuierliche filmische Arbeit über alle Krisen des Kinomarkts, alle Umbrüche in den Förderungssystemen hinweg ermöglichten. Für niemand gilt das mehr als für Heinz Emigholz, der etwas später, Anfang der Siebziger, seine ersten Filme drehte und der in den letzten Jahren mit seiner Serie „Architektur als Autobiografie“ ein ganz und gar eigensinniges Projekt vorgelegt hat.
Seine Filme bewegen sich entlang der Werkbiografie einzelner Architekten der westlichen Moderne: unter anderem Rudolf Schindler, Adolf Loos, jetzt Auguste und Gustave Perret. Auf sprachlichen Kommentar verzichtet Emigholz, stattdessen sucht er mit seiner Kamera einzelne Bauwerke auf und filmt sie aus einer Vielzahl von Perspektiven. Die Auswahl der Blickwinkel beschränkt sich auf solche, die von einem Besucher des Bauwerks nachvollzogen werden können. Kamerabewegungen gibt es keine, Zusammenhänge entstehen nur durch die Montage.
Auch für absolute Architekturlaien
Und die Art, wie sich diese Zusammenhänge herstellen, wie sich auch für absolute Architekturlaien eine Idee von Raumkunst als Bedeutungssystem ausprägt, überrascht mit jedem Emigholz’schen Porträtfilm aufs Neue. Es hat wohl etwas damit zu tun, dass die Filme nicht vom Ganzen, das ein Bauwerk ist, oder von der Idee, die es vielleicht am Ende darstellt, ausgehen, sondern dass sie es induktiv, ohne Vorurteile, Schritt für Schritt – und jedes ein wenig anders – erschließen.
Der neue Film bildet eine außerordentliche Spannbreite an Gebäudetypen ab. Die Brüder Auguste und der weniger prominente Gustave Perret arbeiteten als Architekten und Bauingenieure im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts und auch in der damaligen französischen Kolonie Algerien. Auguste Perret spezialisierte sich auf großformatige, aufwändige Konstruktionen und gilt, wie der Italiener Pier Luigi Nervi, dessen Arbeiten Emigholz’ letzter Film „Parabeton“ porträtierte, als ein Meister des Betonbaus.
Die Aufnahmen, die Emigholz wie stets doppelt datiert – Jahr des Baus und Tag der Filmaufnahme – umfassen fünf Jahrzehnte Architektur- und Weltgeschichte: 1904 entstand ein erstes Wohnhaus in Paris, 1955 vollendete er die Rekonstruktion des im Zweiten Weltkrieg zerstörten historischen Stadtkerns von Le Havre.
Die Le-Havre-Sequenz in Emigholz’ Film ist ein Bravourstück sondergleichen – und endet mit einer formalen Überraschung, die hier nicht vorweggenommen werden soll. Was sich in anderen Passagen des Films bereits andeutet, findet in diesem Schlusssegment seine Vollendung: Emigholz löst sich, stärker als in den Vorgängerfilmen, von einem Werkbegriff, der von dem einzelnen Bauwerk und dessen immanenten Formprinzipien ausgeht.
Säulen und Treppenkonstruktionen
Es gibt zwar nach wie vor ein Interesse an wiederkehrenden Elementen – vor allem Säulen und Treppenkonstruktionen –, doch immer mehr öffnen sich die Gebäudeporträts auf die Umgebung, ihre städtebauliche Umschließung, die oft auch eine Form von Entgrenzung ist.
Augenfällig wird das vor allem in den in Algerien entstandenen Aufnahmen. Nicht immer ist da ohne Weiteres zu erkennen, wo das von Perret entworfene Gebäude beginnt und wo es aufhört. Viele seiner nordafrikanischen Bauten sind große Krankenhäuser, deren kompletten Umfang auch Emigholz’ unaufgeregte, synthetische Montage nicht zu fassen bekommt; eingelassen in unübersichtliche, belebte Straßenzüge, die über das dezent Kontinuität stiftende Sounddesign in den Film eindringen, geben sie nur noch eine Ahnung von ihrer ursprünglich in einen kolonialen Raum hinein entworfenen Form.
„Perret in Frankreich und Algerien“. Regie: Heinz Emigholz. Essayfilm, Deutschland 2012, 110 Min.
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