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Essay„Agonie einer Stadt“

Die Zerstörung der historischen Altstadt von Diyarbakır spiegelt die Gewalt an der kurdischen Bevölkerung. Ein Bericht über die Zwangsverwaltungen in der Region die systematische Unterminierung ihrer Selbstverwaltung.

Die Stadtmauer von Diyarbakir gleicht von oben einem Steinbutt Foto: Sertaç Kayar

Schaut man von oben auf die Stadt Diyarbakır herab, so ähnelt die von Stadtmauern umfasste Altstadt in ihren Umrissen einem Fisch. Die Ansiedlung existiert seit siebentausend Jahren. Heute sind sämtliche Zugänge zur Altstadt von Kontrollpunkten der Polizei besetzt. Die Menschen stehen unter extremer Spannung.

Mit den beiden Diyarbakırer Schriftstellern Şeyhmus Diken und Lal Laleş bin ich unterwegs zu der neueröffneten Buchhandlung Yayınağacı, als ein Busfahrer unseren PKW abdrängt. Wir bitten ihn, uns vorbeizulassen. „Wenn ich euch durchlasse, muss ich alle durchlassen“, motzt er uns an.

In den Abendstunden laufen wir zum historischen Sülüklü Han, einem Gebäudekomplex aus dem siebzehnten Jahrhundert mit steinernem Patio, der zu einem Treffpunkt für Literaturinteressierte geworden ist. Wir gehen vorbei an Kindern, die auf dem Bordstein Ball spielen, bis die Polizei kommt und ihnen sagt, Ballspielen sei hier verboten. Sie sollen woanders spielen gehen.

„Entspannt euch gefälligst“

İrfan Aktan

1981 in Hakkâri geboren. Studium der Kommunikationswissenschaften an der Ankara Universität. Seine journalistische Karriere begann er im Jahr 2000 bei der Online Zeitschrift bianet. Er war als Reporter, Redakteur und Autor tätig für verschiedene Medien, unter anderem für Express, BirGün und Radikal und leitete das Hauptstadtbüro des Fernsehsender IMC TV. Aktan veröffentlichte zwei Bücher zum Thema Kurdenkonflikt und ist aktuell tätig für die Zeitschriften Express, Al Monitor und Duvar.

Das wundert uns nicht. Doch als wir das Sülüklü Han betreten, werden wir von den Betreibern auf ähnliche Weise ermahnt: Auf dem Patio wird zwar ein Feuer betrieben, doch sich daran aufzuwärmen sei verboten. Wir sollen auf unsere Plätze gehen.

Es ist kaum Kundschaft da. Wir zeigen einander ein Video, in dem ein Vater mit seinem Sohn kocht. Es ist mit klassischer Musik unterlegt und dauert 30 Sekunden. Bevor es vorbei ist, kommt jemand und ermahnt uns, den Ton abzustellen, weil „das die Leute stört.“ Als wir Einspruch erheben, empfiehlt man uns, mal runterzukommen und „zu entspannen“. Von den Mitarbeiter*innen selbst wirkt hingegen niemand so richtig entspannt.

Ich muss an die Reinigungskraft am Flughafen von Diyarbakir denken: Als ich aus der Toilettenkabine komme und mir die Hände waschen will, fährt mich der an der Tür Wache schiebende Mann in heftigem Tonfall an, ich solle mir meine Hände gefälligst woanders waschen, er habe gerade erst alles sauber gemacht. Ich mache es trotzdem. Die Papiertücher, so beharrt er, soll ich aber wenigstens nicht in seinen Mülleimer werfen, sondern mitnehmen und woanders entsorgen.

Menschen traumatisiert durch Gewalt

Bis vor zwei Jahren ließen wir keine Gelegenheit aus, nach Diyarbakır zu fahren, um mal andere Luft zu atmen. Heute hat dort das Wort „verboten“ Hochkonjunktur. Özgür Amed, ebenfalls ein Schriftsteller aus Diyarbakır, führt die Anspannung der Menschen auf Traumata zurück, die sie aufgrund der Zerstörung der Altstadt infolge der militärischen Auseinandersetzungen vor zwei Jahren erlitten hat.

„Das Ausmaß der Gewalt in diesen zwei Jahren übertrifft alles, was in den letzten neunzig Jahre geschehen ist. Dieser extreme Einschnitt hat die Menschen völlig traumatisiert und im Prinzip alle krank gemacht. Sie suchen im Alltag nach Gelegenheiten, um ihrer Wut Luft zu machen.“

Innerhalb der historischen Stadtmauern stößt man alle paar Schritte auf einen provisorischen Kontrollpunkt der Polizei. Derzeit werden sechs Polizeiwachen gebaut, wo vorher Wohnhäuser standen. Immer noch werden historisch gewachsene Wohngebiete abgerissen. Schaut man aus der Luft auf Diyarbakır, so sieht man, dass ein alarmierend großer Teil der historischen Stadtmauer von einem unbarmherzigen Raubtier zerstört wurde.

Auf Ausgangssperren folgten Enteignungen

Die erste Ausgangssperre wurde am 6. September 2015 verhängt. Insgesamt über ein Jahr war die Altstadt, die Viertel abwechselnd, von Ausgangssperren betroffen. Niemand durfte während dieser auf die Straße. Ab 2016 wurden die Ausgangssperren schrittweise zurückgenommen; sofort rückten Abrissfahrzeuge an. Selbst Gebäude, die nur minimalen Schaden erlitten hatten, wurden abgerissen.

Im März 2016 beschloss der türkische Ministerrat, 6292 von insgesamt 7714 Grundstücken der Altstadt mit sofortiger Wirkung zu enteignen. Die verbleibenden Grundstücke waren aus einem spezifischen Grund nicht von der Maßnahme betroffen: Sie waren bereits vor Beginn der militärischen Auseinandersetzungen in der Altstadt enteignet worden, um Bauprojekten im Namen der urbanen Transformation Platz zu machen. Im Ergebnis hat der Staat die Altstadt komplett in seinen Besitz gebracht.

Şeyhmus Diken, mein Diyarbakirer Schriftstellerkollege, beschreibt die Zerstörung in seinem jüngsten Buch „Seufzer für Diyarbakir“ in folgenden Worten: „Wir spüren in uns etwas von der Agonie einer Stadt, die einer besonders verwerflichen Art der vorsätzlichen Tötung zum Opfer gefallen ist. Sofortige Enteignung bedeutet Verstaatlichung und das beschreibt die Politik, der die Stadt ausgesetzt ist.

Mit Unterlegenen zu sprechen, ihnen zuzuhören wäre etwas, das die Machthaber nicht mit ihrem Selbstwertgefühl vereinbaren könnten. Stattdessen müssen sie zerquetschen, zerschlagen, niederreißen, um sich dann dafür feiern zu lassen, dass sie sagen: Warte mal ab, ich stell dir da was viel Schöneres und Größeres hin, du wirst sehen…“

Bericht über die Zwangsverwaltungspolitik

Die Demokratische Partei der Regionen (DBP) ist so etwas wie der in den kurdischen Gebieten verankerte Bestandteil der HDP. Sie veröffentlichte am 11. Dezember 2017 einen Bericht über die Praxis der Zwangsverwaltung in den kurdischen Kommunalverwaltungen.

So musste auch der Bericht über die Zwangsverwaltungen in einem Hotel in der natürlich unter Zwangsverwaltung stehenden Altstadt vorgestellt werden, da die Bürgermeisterin von Diyarbakır im Gefängnis sitzt und ihre Mitarbeiter*innen gefeuert wurden.

Vor 2015 wären zu einem solchen Anlass unzählige Journalist*innen, Autor*innen, Politiker*innen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen aus dem Westen der Türkei mit großer Aufregung nach Diyarbakır gereist. Dieses Mal sehe ich im Konferenzsaal fast ausschließlich Lokaljournalist*innen und Lokalpolitiker*innen.

Trotzdem spricht eine Frauenaktivistin davon, dass es „einer der seltenen Momente seit Ausbruch der Gefechte 2015“ sei, in denen Menschen zusammenkommen: „Denn die Leute haben Angst davor, ins Visier der Sicherheitskräfte zu geraten oder festgenommen zu werden.“

70 Bügermeister*innen in Haft

Einen Monat nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes 2016 erließ die Regierung das Notstandsdekret 674, wodurch Gouverneure und Landräte die Befugnis erhielten Bürgermeister*innen aus Kommunalverwaltungen zu entfernen, die Kommune unter Zwangsverwaltung zu stellen, ihren beweglichen Besitz zu beschlagnahmen und Mitarbeiter*innen zu entlassen.

Wenige Wochen später wurden 94 von 102 bis dato von der DBP geführten Kommunalverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt. Drei Großstädte und sieben Provinzstädte, 72 Landkreise und 12 Kleinstädte mussten ihre gewählten Bürgermeister*innen verabschieden und hinnehmen, dass aus Ankara geschickte Staatsbeamte oder direkt die Gouverneure und Landräte selbst das Ruder übernahmen.

93 Bürgermeister*innen und rund 500 Gemeinderät*innen kamen ins Gefängnis. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts saßen noch 70 Bürgermeister – davon 27 Frauen – und 81 Gemeinderät*innen ein. Diese Operation war der schwerste Eingriff Ankaras in die Kommunalstrukturen in der gesamten Geschichte der Türkei. Zumindest aus Sicht der Kurden wurden damit die Ergebnisse der Kommunalwahlen von 2014 vollkommen nivelliert.

Wer über Marxismus oder Sex spricht wird gefeuert

Als erste Amtshandlung entließen die Zwangsverwalter insgesamt 2013 Verwaltungsmitarbeiter*innen. Landrat Mustafa Kılıç wurde für den Bezirk Kayapınar in Diyarbakır zum Zwangsverwalter bestellt. Im Februar 2017 erklärte er der Öffentlichkeit, dass er alle Personen, die mit PKK-Kämpfer*innen verwandt sind durch Angehörige von Soldaten und Polizisten ersetzt.

Kurioser war die Begründungen für die Entlassung von Lehrer*innen: Wer Kindern Marxismus, den antiken zoroastrischen Glauben oder irgendwas mit Sex erklärt, muss gehen.

Beeindruckend konsequent ist das Vorgehen gegen die frauenspezifische Arbeit der Kommunen, das der Bericht gesondert erfasst. Die DBP hat allerorten verschiedene Abteilungen und Angebote für Frauen eingerichtet, die systematisch zerstört wurden. In der Großstadt Mardin zum Beispiel ist der Beauftragte für Gewalt gegen Frauen jetzt ein Mann!

„Niemand vergisst, was uns angetan wurde“

Der Ko-Vorsitzende der DBP, Mehmet Arslan, kommentiert die Eingriffe mit den Worten: „Vielleicht kann man mittlerweile akzeptieren, dass es in der Türkei Kurden gibt, aber man kann anscheinend nicht akzeptieren, dass sie sich selbst verwalten.“

Insbesondere die Arbeit der Gemeinden zu Themen wie Geschlechtergleichheit, soziale Ökologie oder direkte Demokratie sei mit der Axt zertrümmert worden. Der Bericht spricht in eindrucksvoller Sprache davon, wie die Gemeinden und Stadtverwaltungen von den Zwangsverwaltern als „zurückzueroberndes Terrain“ betrachtet werden.

Wie lange dieser Eroberungsfeldzug noch dauern soll, weiß niemand. Denn vor Ort wagt niemand eine Prognose, ob den Menschen das Recht zugestanden wird, bei den Kommunalwahlen 2019 wieder ihre eigenen Vertreter*innen zu wählen oder eher doch nicht.

Ein Jugendlicher, den ich auf die Fischform des historischen Diyarbakır ansprach sagte: „Die Stadtmauern sehen vielleicht aus wie ein Fisch, aber das heißt nicht, dass wir ein Fischgedächtnis haben. Niemand vergisst, was uns angetan wurde.“

Übersetzung: Oliver Kontny

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