Es sind immer die kleinen weißen ziegen, die zu früh sterben. Das ist vor allem für die kinder schwierig: Ohne den Schutz der Mutter
Vogelfluglinie
von Rebecca Clare Sanger
Eine Stunde später, und wir hätten die Kinder wohl nicht im Kindergarten zurücklassen können, so traurig wären sie gewesen. Dabei ist es uns ja schon so oft passiert mit den Ziegen. Es trifft immer die kleinen, weißen: den weißen Bock, der pünktlich am Geburtstag meines Mannes seine buchstäblich letzten Atemzüge in seinen Armen verbrachte – keuchend, schwitzend, mit Schaum am Mund und verdrehten Augen.
Später, sein – helles – Töchterchen: verfroren nach der Geburt, die Augen bewegten sich noch, den Hals typisch nach hinten verdreht. Wir rieben und rieben mit Stroh, aber um das Schwesterchen stand es kaum besser und die Wärme schien ihren Körper schon verlassen zu haben.
Und heute kommt ihre – weiße – Schwester nicht aus dem Stall. Meinem Mann war es zum Glück schon vor ein paar Tagen aufgefallen: Die Kleine geht so komisch. Sie frisst so langsam. Gestern konnte sie sich kaum aufrichten, allein. Und so sind wir die letzten Tage nun meist schon früher auf der Weide: mit Kindern und Korn und Heu, mit heißem Trinkwasser in der Gießkanne.
Sie kommt nicht heraus. Aber sie blökt noch kräftig. Mit typisch verdrehtem Hals liegt sie verfroren im Stall. Ihre Mutter ist bei den lebenden, den starken Ziegen.
Mein Mann trägt das Tier mit hängendem Hals, ich begleite die Kinder mit hängenden Köpfen, wir tragen sie zu uns nach Hause, in unseren Gartenschuppen. So. Auf, los, ab in den Kindergarten, sage ich, aber meine Kinder warten. Auf die Wärmelampe, die mein Mann installiert, das Korn, das langsam gefressen wird. Dann richtet sich die kranke Ziege auf ihren wackeligen Beinen auf.
Vorher, im warmen Bett liegend, bei Regen und Windböen, die ich durch die offenen Veluxfenster auf meinem Gesicht fühle, habe ich mir die letzten zwei Wochen lang immer Mutter und Tochter vorgestellt: allein auf der Weide.
„Es geht nicht anders. Der einzig winterfeste Stall ist eben auf der großen Wiese. Die werden sich schon arrangieren“, sagte mein Mann und stellte eine weitere, provisorische Unterkunft auf, die Mutter und Tochter aufsuchen konnten, wenn die andern Ziegen sie in den wohnzimmergroßen Stall nicht hineinließen.
Aber wie das Kitz heute morgen so da lag: am Eingang des Stalls, ohne den Schutz und die Wärme der hinteren Wände, wo sich der Rest der Ziegengruppe zusammengekuschelt hatte. Die Mutter trat allein aus dem Stall. Seite an Seite mit den anderen. Da war kein Streit in unserer kleinen Herde, keine Angst um eines der ihren – die Mutter war gar nicht in der Nähe ihres kranken Kitzes.
So wird ihre Tochter die letzten Nächte allein verbracht haben. Ohne die schützende Wärme ihrer Mutter. Bei Minusgraden ohne Unterwolle. Verdrehen tun Ziegen meist den Hals, um ihn bei ihren Herdenmitgliedern auf den warmen Rücken zu legen. Und wenn da keiner ist? Versteift er sich, scheint es.
Bloß meine Hündin ist treudoof. Leckt dem Kitz den Po und den Hals. Bringt sich vor den Hörnern in Deckung, die letztes Jahr noch nicht da waren, als sie neugeboren im Korb lag. Die Hündin ist fabelartig, vorbildhaft. Wenn sie das Kleine so umsorgt wissen, können meine Kinder endlich ruhig losgehen – in den Kindergarten.
Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht alle zwei Wochen an dieser Stelle.
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