: „Erwartet habe ich ein Gefühl von Verantwortung“
Fürstenberg liegt idyllisch am Schwedtsee. Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ebenso. Von dort, wo die Asche der verbrannten Häftlinge ins Wasser geworfen wurde, kann man den Kirchturm der kleinen Stadt sehen. In einer Langzeitstudie, die sich spannend wie ein Krimi liest, hat die Historikerin Annette Leo Fürstenbergerinnen und Fürstenberger gefragt, wie sie sich ans KZ, das später jahrzehntelang als russische Kaserne genutzt wurde, erinnern. INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB
ANNETTE LEO wurde 1948 in Düsseldorf geboren. Vierjährig zog sie mit ihren Eltern nach Ostberlin. Ihr Vater war Journalist und berichtete zeitweise aus dem Ausland.
Journalistin war auch der Wunschberuf von Annette Leo. Nach ihrem Geschichtsstudium hat sie ein paar Jahre bei der außenpolitischen Zeitung Horizont gearbeitet hat. Furchtbar sei die Zeitung gewesen, sagt sie. Abgehalfterte Parteigänger und verbrannte Geheimdienstler hätten da gearbeitet. „Es waren Leute, die ihr Jackett anzogen, wenn sie auf den Gang gingen.“
Bereits vor der Wende hatte Annette Leo die Möglichkeit, sich in verschiedenen Projekten mit Geschichtsbildern, Geschichtsbewusstsein und Erinnerungsbildern zu beschäftigen: Welche Wahrnehmung legt der Alltag, aber auch die Ideologie über das, was man erlebt hat? Diesem Thema ist sie treu geblieben – seit 2006 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Jena im Forschungsprojekt „Erinnerung – Macht – Geschichte“.
Ende 2007 erschien Annette Leos Buch „Das ist so’n zweischneidiges Schwert hier unser KZ …“ im Metropol Verlag. Darin geht es um den Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.
taz: Frau Leo, haben Sie sich Freunde oder Feinde gemacht mit Ihrem Buch über das Verhältnis der Fürstenberger zum KZ Ravensbrück?
Annette Leo: Bis jetzt habe ich nur zwei freundliche Rückmeldungen bekommen.
Ihr Buch ist spannend wie ein Krimi. Dabei ist die Idee dahinter einfach: Sie fragen die alten Leute, was sie gesehen haben. Was sie gehört haben. Was sie über das Frauenkonzentrationslager dachten.
Das stimmt so nicht ganz. Ich habe die Fürstenberger zu ihrer Lebensgeschichte befragt. Fragen allein nach dem KZ wehrten sie ab: Wir hatten nichts damit zu tun; wir haben nichts gesehen; wir durften davon nichts wissen. Erst dadurch, dass ich nach ihrer Kindheit, den Eltern, der Schule, der ersten Liebe, dem Leben im Krieg und später in der DDR fragte, fielen auch Worte, die eine Beziehung – häufiger sogar eine Nichtbeziehung – zum Lager deutlich machten.
Inwieweit hat die Frage nach der Lebensgeschichte mehr zutage gefördert?
Die Leute waren etwa in der Hitlerjugend (HJ) oder beim Bund Deutscher Mädel (BDM). Dort wurde ihnen erklärt, warum es Konzentrationslager gibt. Manche glaubten ja wirklich, dass nur Prostituierte da hineinkommen. Oder Arbeitsscheue oder Frauen, die gestohlen hatten. Diese Vorstellung schleppen sie bis heute in ihren Erzählungen mit. 1945 haben sie dann mitgekriegt, was für ein großes Unrecht im KZ geschehen ist. Das haben sie auch wahrgenommen und erzählen es. Manchmal wurden mir beide Erzählstränge im gleichen Atemzug präsentiert, obwohl sie gar nicht zusammenpassen. Hätte ich nur nach dem Lager gefragt, wäre das nie deutlich geworden.
Die meisten Leute distanzieren sich vom Lager auf eine fast naive Art. Diese Einfachheit hat etwas Entlarvendes.
Ich wollte nicht mit dem Finger auf die Menschen zeigen, sondern sie verstehen. Ich wollte wissen, wie sie das erlebt hatten, was im KZ geschah. Haben sie es mit Mitgefühl oder mit Kälte wahrgenommen? Wie haben sie es verarbeitet? Wie erzählen sie heute davon? Oder haben sie es gar nicht verarbeitet? Die kleinen und großen Geschichten, die ich in Fürstenberg erfuhr, hätten auch an vielen anderen Orten in Deutschland so passieren können.
Meinen Sie nicht, dass Fürstenberg durch seine Nähe zum KZ Ravensbrück besonders ist?
Besonders ist es auch wegen der Nachgeschichte: dass das eigentliche Häftlingslager nach dem Krieg eine sowjetische Kaserne war. Zuerst lebten die Fürstenberger jahrelang mit der SS und später jahrzehntelang mit den sowjetischen Soldaten.
Haben Sie bei Ihren Interviews auf so etwas wie Schuldgefühle gewartet?
Warum sollte ich?
Was haben Sie erwartet?
Ein Gefühl von Verantwortung. Das kam von einigen, aber von anderen nicht. Verantwortung ist ja was anderes als Schuld. Die Leute haben alle als kleine Bürger in einer Diktatur gelebt. Sie konnten kaum Einfluss auf die Geschehnisse nehmen. Nur wenige waren verstrickt, etwa dieser Tischler, dessen Vater Auftragnehmer der SS war und der als Geselle das KZ mit aufgebaut hat.
Waren Sie zu DDR-Zeiten einmal in der Gedenkstätte Ravensbrück?
Erst 1986, also ziemlich spät. Ich bin in die ehemalige Kommandantur, wo die Ausstellung war. Die fand ich propagandistisch – was mich nicht überrascht hat. Sie hatte wenig mit der eigentlichen Geschichte des Lagers zu tun. Das Einzige, was ich damals authentisch fand, war ein Wachturm aus Holz. Aber das war der Wachturm der sowjetischen Kaserne.
Warum war klar, dass die Geschichte zu DDR-Zeiten nicht wichtig war?
Die Alltagsgeschichte im Nationalsozialismus war lange ein Tabuthema. Es gehörte zum propagandistischen Inventar, dass die DDR ein antifaschistischer Staat mit antifaschistischer Bevölkerung ist. Alle Leute, die bereit waren, sich loyal zur neuen Ordnung zu verhalten und erneut gute Untertanen zu werden, die durften auf die antifaschistische Seite wechseln. Dann war auch keine Rede mehr von individueller Verantwortung, persönlicher Schuld oder Versagen in der NS-Zeit. Die Geschichtserzählung der DDR handelte vor allem vom Widerstand. Dieser Mythos vermengte sich dann auch noch mit den Erinnerungen der Fürstenberger.
Wie haben Sie das als Historikerin verkraftet, dass Ihnen die Geschichte des Faschismus verzerrt entgegenkam?
Ich bin mit diesem Geschichtsbild aufgewachsen. Auch während meines Geschichtsstudiums spielten Nationalsozialismus und Faschismus keine große Rolle. Das, was ich da gelernt habe, habe ich aber auch nicht in Frage gestellt.
Wann haben Sie dieses Geschichtsbild denn in Frage gestellt?
Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder mit Leuten gesprochen, die etwas anderes erzählten. Manchmal hatte ich auch die Erlaubnis, Publikationen zu lesen, die im Westen erschienen waren. Da habe ich weitergefragt.
Wen?
Freunde. Kollegen. 1986 hatte ich zudem vom Defa-Dokumentarfilmstudio zusammen mit einer Freundin den Auftrag, überlebende kommunistische Häftlinge aus Sachsenhausen zu interviewen. Obwohl alle gewohnt waren, immer das zu erzählen, was man von ihnen erwartete, brach das genormte Erinnerungsbild auf, als sie über ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre politische Sozialisation redeten.
Wie?
Sie haben über Auseinandersetzungen unter den kommunistischen Häftlingen berichtet. Sie haben von Solidarität und mangelnder Solidarität erzählt. Alles war viel lebendiger und widersprüchlicher. Ich hatte auch einen Onkel, der unter anderem im KZ Natzweiler-Struthof im Elsass war – als Häftlingsarzt im Krankenbau. Dort hat die SS schlimme Verbrechen begangen. Er schrieb seine Erinnerungen gleich 1945 auf und hat dabei auch über Kollaboration zwischen kommunistischen Funktionshäftlingen und der SS berichtet. Als Kind habe ich das zum ersten Mal gelesen – und nichts kapiert. Mitte der 80er-Jahre habe ich es erneut gelesen. Da habe ich verstanden, dass das die absolut unerwünschte Erinnerung war. Das Buch ist in der DDR nie gedruckt worden.
Wie sind Sie bei der Recherche in Fürstenberg denn mit Ihren eigenen Erfahrungen umgegangen – etwa der, dass Ihre beiden Großväter jüdischer Herkunft waren?
Ich musste zuerst eine Menge Abwehr und Klischees, mit denen ich aufgewachsen bin, überwinden, um ein echtes Interesse an den Geschichten der Fürstenberger zu entwickeln. Wenn jemand sagt, er habe zwischen 1933 und 1945 eine schöne Jugend gehabt und Politik hat ihn nicht interessiert, dann gingen bei mir eigentlich sofort die Jalousien runter.
Nach dem Motto: Wer Freude hatte, der war ein Nazi?
Ja. Einmal erzählte ein Fürstenberger, dass er Soldat in Frankreich war. An seinem freien Tag wäre er nach Paris gefahren und auf den Eiffelturm gegangen. Dort hätte er seinen Namen ins Geländer geritzt. Er erzählte das ganz freudig. Da merkte ich, dass ich wütend wurde.
Warum wütend?
Mein Vater ist als Emigrantenkind nach Paris gekommen. In dem Augenblick, in dem die deutschen Soldaten auftauchten, war er wieder verfolgt. Wo die Familie doch glaubte, sie hätten ihre Verfolger abgeschüttelt. Ich dachte wahrscheinlich immer: Was hattest du in Paris zu suchen?
Haben Sie eine jüdische Identität?
Nein. Es ist eher eine Verbundenheit mit dem Verfolgungsschicksal.
Ihr Vater war Jude, Kommunist, Emigrant und Mitglied der französischen Résistance.
Mein Vater war erst einmal Kind. Er war 17, als die Deutschen in Paris einmarschierten. Er war kein Kommunist. Und er war im jüdischen Sinne auch kein Jude, weil seine Mutter keine Jüdin war. Das spielte in der Verfolgungspolitik in den besetzten Ländern keine Rolle. Er ist in den Untergrund gegangen und hat Kontakt zum kommunistischen Widerstand aufgenommen. Später war er in der Résistance.
Was hat ihn bewogen, nach dem Krieg in den Osten zu gehen?
Das ist er gar nicht. Aber 1952 bekam er den Auftrag von der KPD, nach Ostberlin zu gehen. Meine Mutter und ich sind mitgegangen.
Gehörten Sie in der DDR zur Machtelite?
Nicht wirklich. Mein Vater war Journalist und hatte in der Partei keine hohe Funktion.
Zur moralischen Elite gehörten Sie bestimmt.
Das schon. Allein aufgrund der Familiengeschichte: Verfolgte, Widerstandskämpfer, Mitglieder der SED. So gehörten wir schon zu der kleinen privilegierten Gruppe.
Wie hat Ihre Herkunft Ihr DDR-Bild geprägt?
Solange ich zur Schule ging und von dem abhängig war, was meine Eltern erzählten, war ich mit dem Bild einverstanden, dass die DDR eine neue, gute Gesellschaft ist, die natürlich Mängel hat. Man sollte immer nur offen seine Meinung sagen und sich dafür einsetzen, dass die Mängel beseitigt werden. Ich glaubte ja, dass die DDR die bessere Gesellschaft ist im Gegensatz zur BRD, wo die alten Nazis regieren. Das habe ich akzeptiert und mitgetragen.
Konnten Sie Ihre Meinung tatsächlich offen sagen?
Klar. Aber ich hatte gar keine Fundamentalkritik. Ich habe nicht gesagt: Das ist alles undemokratisch und funktioniert nicht, sondern ich habe bestimmte Dinge, die mir aufgefallen sind, kritisiert. Und da passierte gar nichts.
Das klingt, als hätten Sie sich arrangiert, wie auch die Fürstenberger sich arrangierten?
In gewisser Weise schon. In dem Maße, wie ich kritischer wurde, habe ich meine unmittelbare Naivität verloren. Ich habe aufgehört, alles zu sagen, was mir durch den Kopf ging, ich habe mir vielmehr überlegt, was möglich ist und was nicht. Gar nicht, weil ich Angst vor Repressalien hatte.
Waren Sie nicht ohnehin geschützt durch Ihre Herkunft?
Das habe ich nicht so gesehen. Mir ging es darum, nicht isoliert und ausgegrenzt zu sein. Ich wollte immer etwas sagen, was andere Leute irgendwie noch akzeptieren konnten. An Karriere hatte ich sowieso kein Interesse. Ich wollte einfach eine Journalistin sein, die gute Artikel schreibt und eventuell auch mal ins Ausland fahren kann wie mein Vater.
Wollten Sie nie einen Ausreiseantrag stellen?
Mein Mann ja. Ich war lange dagegen, aber etwa Mitte der 80er-Jahre hatten wir uns doch darauf verständigt, dass wir es tun. Er hat dann aber nie einen Ausreiseantrag gestellt. Ich wäre halt mitgegangen – ich wollte aber eigentlich bleiben.
Das Gehen liegt ihnen nicht?
Stimmt.