: Erste Liebe – letzte Riten
Neu im Kino: „My Brother Tom“ von Dom Rotheroe. Ein intensiver und glaubwürdiger Film über eine radikale Beziehung, die nur im Wald möglich ist
Es war einmal, da stand der Wald für Zuflucht, Idylle, Geheimnis. Jessica, die in einem bürgerlichen britischen Wohnviertel aufwächst, wird er dies auch in diesen Tagen wieder, nachdem sie den gleichaltrigen Tom kennenlernt. Der ist seltsam, scheint im Gehölz neben dem Schulweg zu leben, und wird von den andern Jugendlichen gequält, ohne dass es ihm viel auszumachen scheint – denn: „Nothing hurts, if you don‘t let it“.
Auch Jessica ist Außenseitern: trotzig, unsicher, auf der Suche nach sich, und so finden die beiden ineinander die eigenen Ängste und Sehnsüchte. Im Wald können sie sie ausleben, in einem dunkelgrünen Tümpel herumplantschen, sich in eine Hölle verkriechen und dort zu ganz eigenen Worten, Berührungen und Ritualen finden. Zwischen ihnen entwickelt sich eine radikale Liebe, die nur im Wald möglich ist.
Beide wollen das Böse, das ihnen von Erwachsenen angetan wurde, vom anderen fernhalten, missverstehen diese Fürsorge des anderen aber als Vertrauensbruch. So kommt es zur Tragödie, vor der sie auch der Wald nicht beschützen kann.
So intensiv und glaubwürdig wie in diesem Spielfilmdebüt des Briten Dom Rotheroe wurde selten gezeigt, wie jungen Menschen miteinander die Liebe immer wieder erfinden müssen, und wie sie dabei bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen.
Ian McEwan hatte in seinem ersten Roman „Der Zementgarten“ und seinen frühen Erzählungen eine ähnliche anarchische Gefühlslandschaft beschrieben, und der Titel eines seiner Bücher „Erste Liebe – letzte Riten“ würde auch für diesen Film ideal passen.
Die Erwachsen sind in der Welt der beiden bestensfalls gutmütig ignorant, aber auch unberechenbar, bedrohlich und böse. Da beide katholisch sind, ist die Ikonographie, die sie selber für sich entwickeln, eine Mischung aus heidnischen und christlichen Symbolen. So flechtet sich Tom in einer Schlüsselsequenz eine Dornenkrone und drückt sie sich in die Stirn, bis Blut kommt.
Es gibt viele solche Szenen in dem Film, in denen die Schauspieler an ihre Grenze gestoßen werden, und man kann Ben Whishaw sowie Jenna Harrison nur dafür bewundern, wie komplex, widersprüchlich und dennoch absolut natürlich und glaubwürdig sie die beiden Protagonisten in ihren ersten Filmrollen verkörpern. Dom Rotheroe kommt vom Dokumentarfilm, und in seinem Film wirkt nichts so, als sei es so inszeniert.
Dadurch rückt der Film dem Zuschauer sehr nah auf den Pelz. Für diese Wirkung ist auch Robby Müller verantwortlich, der nach Michael Ballhaus wohl renommierteste Kameramann Europas, der fast alle Filme von Wim Wenders und Jim Jarmusch fotografiert hat und für Lars von Triers Dogma-Wackelkamera verantwortlich war.
„My Brother Tom“ drehte er mit einem kleinen DV-Camcorder, wodurch er extrem beweglich war und den Protagonisten sehr nah kommen konnte. Auf einige Farben reagiert die Digitalkamera anders als eine konventionelle, und Müller hat aus dieser Not eine Tugend gemacht, so dass der Wald im Film oft tatsächlich magisch zu schimmern scheint. Wilfried Hippen
Heute, morgen (18 Uhr) sowie am Montag und Dienstag (20.30 Uhr) im Kino 46