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■ Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion nach dem Moskauer Putsch verhalf den Balten zur UnabhängigkeitDie russischen Truppen verlassen Deutschland – und das Baltikum

31. August 1994. Ein historisches Datum im Baltikum wie in Deutschland. Auf den ersten Blick zumindest geschieht dasselbe: Heute ziehen die letzten Truppen der früheren Sowjetarmee nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Lettland und Estland ab (Litauen, die dritte der baltischen Republiken, haben sie bereits vor einem Jahr verlassen).

Ein zweiter Blick zeigt jedoch beträchtliche Unterschiede. Selbst die Anwesenheit von Bundeskanzler Helmut Kohl und Rußlands Präsident Boris Jelzin bei den Berliner Feierlichkeiten vermag kaum jenen Schleier von Tristesse zu zerreißen, der von Anbeginn über dem Abzug der ehemals sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland gelegen hat. Obwohl maßgeblich an der Niederwerfung des Nationalsozialismus beteiligt, treten sie gleichsam als Sieger zweiten Ranges den Heimweg an: Die Regie auch des Bonner Zeitgeistes hat ihnen und den Westalliierten eine getrennte Verabschiedung verpaßt. Ein Abglanz des historisch Gebotenen, gewiß, aber immerhin.

Nichts hingegen hat man sich am selben Tag im Baltikum auf offizieller Ebene zu sagen. Trostloser könnte die Gelegenheit für die abziehenden Rotarmisten gar nicht ausfallen; in Riga ist selbst das von der Regierung geplante Gartenfest, so hört man, am Nein des nationalkonservativen Stadtrats gescheitert. Für diesen Unterschied gibt es vor allem einen Grund: Die DDR war zwar Satellit, nicht jedoch gewaltsam einverleibter Bestandteil der einstigen UdSSR. Letztlich vielleicht nur eine Nuance, doch bleibt festzuhalten, daß dem SED-Staat eine Souveränität gegeben war, die Estland, Lettland und Litauen gänzlich vermißten. Die Balten aber hatten keinen Anlaß, dies zu übersehen oder gar zu vergessen.

Eine der Folgen lag nämlich daran, daß ihre Heimat durch die Annexion ungefragt eine sowjetische geworden war, vor allem offen für Migrationsströme aus dem Rest des Moskauer Reichs. Schon den Militärs galt das Baltikum wegen seiner vergleichsweise hohen Lebensqualität als zweitbegehrteste Etappe nach einer Stationierung in der DDR. Für russische, ukrainische oder weißrussische Zivilisten stellten Estland, Lettland und Litauen hingegen schon die beste aller möglichen sowjetischen Welten dar. Und da das Baltikum nun als Teil der UdSSR galt, konnte es diesen Menschen auch als selbstverständlich erscheinen, hier ihr Zuhause, gar ihre (neue) Heimat zu suchen und finden. Mit einer Berechtigung freilich, die – ideologisch gelenkt – das vorausgegangene Unrecht der Eingliederung nicht kannte oder als Sieg im Kampf gegen den Nationalsozialismus umerklärte.

Gerade zu einer solchen Situation kam es in der DDR nicht. Ganz zu schweigen davon, daß es hier keine zivile Zuwanderung aus dem Osten gab, wurde auch die Westgruppe der vormals sowjetischen Streitkräfte in Deutschland sorgfältigst von der einheimischen Bevölkerung abgeschirmt. Der SED-Staat konnte in den allerseltensten Fällen ein Zuhause für die Rotarmisten und deren Familienangehörige werden. Insofern ging es beim Abzug dieser Truppen aus der ehemaligen DDR „lediglich“ darum, Liegenschaften zu räumen – eine Frage vor allem der Militärlogistik. War diese gelöst, konnten die Deutschen das Kapitel „Russen in unserem Land“ zuschlagen. Und was persönliche Probleme bei den abziehenden Soldaten angeht – noch immer haben sie sehr viel mit Wohnungen oder der künftigen sozialen Absicherung in Rußland, ihrer angestammten Heimat, zu tun.

Anders jedoch im Baltikum. Hier haben viele Offiziere im Ruhestand für sich ein neues Zuhause gefunden, gar Wurzeln geschlagen. Noch lange nachdem der letzte Zug mit Kriegsgerät und aktiven Truppen Estland und Lettland gen Osten verlassen haben wird, werden die drei Republiken mit einer Präsenz russischer Militärs weiterleben müssen: Allein in Lettland wird die Zahl der Armeepensionäre auf etwa 40.000 geschätzt (plus Familienangehörige). Nur unter deutlichem Murren, unter mehr oder minder sanftem westlichem Druck und gegen noch andauerndes innenpolitisches Sperrfeuer haben die Verantwortlichen in den baltischen Staaten entsprechenden Regelungen zugestimmt – anders waren Vereinbarungen über den Abzug der aktiven Streitkräfte nicht zu haben. Es ist auch diese Absonderlichkeit – Aufenthaltsrecht für Mitglieder einer Besatzungsarmee –, die den Esten, Letten und Litauern die gewiß gebotene und berechtigte Freude über die Rückführung der russischen Truppen vergällt: Mitnichten sehen sie sich dadurch veranlaßt, Rotarmisten noch einmal auf den Straßen ihrer Hauptstädte paradieren zu lassen. Unter den gegebenen Umständen ist die gefundene Lösung jedoch erstaunlich human und klug. Im Westen und vor allem in Deutschland, wo andere Voraussetzungen zu einem klaren Trennungsstrich geführt haben, sollten dies jene bedenken, die sich bisweilen über die Dickköpfigkeit der Balten gegenüber Moskau echauffieren.

Insbesondere sollten die dabei angelegten Maßstäbe gewissenhaft überprüft werden. Was den Deutschen seit dem Herbst 1989 so selbstverständlich und Rechtens erschien – die Wiederherstellung der vollen staatlichen Souveränität durch Beseitigung der Folgen des Zweiten Weltkrieges –, es wurde etwa vom lettischen Parlament in seiner Unabhängigkeitserklärung vom 4. Mai 1990 eingefordert. Doch der damit verbundene Appell an den Westen sollte zunächst ungehört bleiben, erst der Zusammenbruch der Sowjetunion in den Tagen des Moskauer Putsches vom August 1991 verhalf nun auch den Balten zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung und dessen internationaler Anerkennung.

Ach ja – fast vergessen: Am 23. August jährte sich zum 55. Mal der Tag, an dem Hitler Litauen, Lettland und das Estland an Stalin verscherbelte. Ojars J. Rozitis

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