Ernst Albrecht und das Celler Loch

Die Märchen des niedersächsischen Ministerpräsidenten beschäftigen am Mittwoch den Landtag in Hannover / Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses bekräftigt die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes / Die angebliche Gefangenenbefreiung von Sigurd Debus war nichts als ein Eigengewächs des „Dienstes“  ■  Von Jürgen Voges

Hannover (taz) - Nur ein einziges Thema findet sich diesmal für den ganzen Mittwochnachmittag auf der Oktober -Tagesordnung des niedersächsischen Landtages: die Debatte über den Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschuß zum „Celler Loch“. Drei Jahre lang hat sich dieser Ausschuß durch Bände von geheimen Akten gearbeitet, hat in insgesamt 135 Sitzungen versucht, die Geheimdienst-Operationen „Neuland“ und den „Aktion Feuerzauber“ genannten Anschlag des niedersächsischen Verfassungsschutzes auf das Celler Gefängnis aufzuklären. Umfassend hatte der Ausschuß auch die Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz des Landes mit dem dubiosen Agenten Werner Mauss zu untersuchen und dazu noch das Versagen des Geiheimdienstes im „Spionagefall Hedtke“, bei dem gleich eine ganze Liste von Namen und Adressen niedersächsischer Verfassungsschützer in die Hände des Staatssischerheitsdienstes der DDR gelangten.

Kein Parlamentsausschuß in der Bundesrepublik hatte sich jemals so lange und so intensiv mit den Praktiken der Nachrichtendienste auseinandergesetzt. Doch in der Debatte des Landtages über den 390 Druckseiten umfassenden Abschlußbericht werden nicht mehr die Geheimdienst -Operationen im Vordergrund stehen, es wird vielmehr um Ministerpräsident Ernst Albrecht selbst gehen, um die Frage, ob und inwieweit der Regierungschef in seiner Regierungserklärung zum Celler Verfassungsschutzanschlag am 25. April 1986 das Landesparlament vorsätzlich nach Strich und Faden belogen hat.

Als die 'Hannoversche Allgemeine Zeitung‘ vor dreieinhalb Jahren aufdeckte, daß nicht irgendwelche „Terroristen“ hinter dem Anschlag auf das Celler Gefängnis im Juli 1978 steckten, sondern daß der Verfassungsschutz höchstselbst Hand angelegt und das Loch in die Außenmauer des Knastes gesprengt hatte, da meldete sich Ernst Albrecht noch am gleichen Tag im hannoverschen Leineschloß mit einer Regierungserklärung zu Wort. Von A bis Z verteidigte der Ministerpräsident damals vor den 150 Abgeordneten des Landtages den Bombenanschlag in staatlicher Regie, nannte ihn „notwendig“, „erheblich erfolgreich“ und behauptete, die ganze Aktion sei 1978 „im engen Zusammenwirken mit der damaligen Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Schmidt sowie mit Wissen und unter begrenzter Mitwirkung der Hessischen Landesregierung durchgeführt worden“. Lang war damals Albrechts Liste der Erfolge, die ein „Celler V-Mann“ angeblich aufgrund des Verfassungsschutzanschlages erzielen konnte: So sei der Ausbruch des später an den Folgen der Zwangsernährung gestorbenen Sigurd Debus aus dem Celler Gefängnis verhindert worden und „eine geplante Mordtat ebenfalls“. „Brandanschläge und Raubüberfälle konnten aufgeklärt werden“, sagte Albrecht damals vor dem Landtag. Man habe geraubtes Geld und Waffen beschlagnahmt und auch einen Sprengstoffanschlag verhindert. „Das sind nur Beispiele“, fügte der Ministerpräsident in der Regierungserklärung noch hinzu und versprach: „Ich könnte die Liste verlängern.“

Allein knapp 300 Seiten Sachverhaltsdarstellung enthält der Abschlußbericht des Celler-Loch-Ausschusses, und dieser Teil ist von den Ausschußmitgliedern aller vier Landtagsfraktionen gemeinsam verabschiedet worden. So verwundert es auf den ersten Blick, wie unterschiedlich die Ausschußmitglieder dann doch den Wahrheitsgehalt von Albrechts Regierungserklärung bewerten. So stellen die sozialdemokratischen Ausschußmitglieder fest, „daß Ministerpräsident Albrecht in den wesentlichen Punkten dem Landtag die Unwahrheit gesagt hat“. Für CDU und FDP dagegen sind Albrechts Aussagen zumindest „alle im Kern richtig“. Allerdings beruhe die Regierungserklärung auf einem Vermerk des Verfassungsschutzes, der „den Erfolgen großes Gewicht beigemessen und dabei wohl auch übertrieben hat“. Die Grünen schließlich haben im Landtag sogar eine „Verurteilung des Ministerpräsidenten“ beantragt, weil dieser „eine in nahezu allen Punkten unwahre Regierungserklärung abgegeben und den Landtag belogen hat“.

Einigkeit konnte der Ausschuß immerhin noch darüber erzielen, welche tatsächlichen Ereignisse der Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung jeweils als Erfolge angesprochen hatte, und hier hilft der Blick aufs Detail nun weiter: Da besteht der von Albrecht vor dem Landtag behauptete Ausbruchversuch von Sigurd Debus und der angeblich damit verbundene Plan der Ermordung eines Justizvollzugsbeamten im Ausschußbericht dann nur aus einer Reihe von Kassibern, in denen der Gefangene bittet, ihn herauszuholen, und dabei auch Morddrohungen gegen einen JVA -Beamten zu Papier bringt. Alle weiteren Schritte zur Befreiung von Sigurd Debus, so kann man eindeutig dem Ausschußbericht entnehmen, hat dann der Verfassungsschutz selbst in die Hand genommen. Albrechts „verhinderter Ausbruchversuch“, das ist in Wirklichkeit die Geschichte des Celler Lochs. Die V-Leute warben sowohl bei jugendlichen Sympathisanten in Salzgitter als auch bei einem alten Bekannten von Sigurd Debus in den Niederlanden vehement für die Gründung einer eigenen Gruppe im Untergrund zur Befreiung von Debus. Doch am Ende blieben nur das Celler Loch, ein weiterer vom Verfassungsschutz inszenierter angeblicher Befreiungsversuch und einige von den V-Leuten zu Debus eingeschmuggelte Gegenstände als die einzigen bewiesenen Schritte zur „Gefangenenbefreiung“.

Der einzige von Ernst Albrecht im Landtag zitierte „Erfolg“, der tatsächlich zu einem Strafverfahren und einer Verurteilung geführt hat, besteht im Auffinden eines zum Sprengsatz umgebauten Feuerlöschers in der Wohnung des Hamburger Maurers Manfred Gürth. Aber auch dieser Sprengsatz wäre ohne den Einsatz eines niedersächsischen V-Mannes als Agent provocateur vermutlich nie gebaut worden. Selbst CDU und FDP schreiben in ihrer Bewertung, es sei nicht auszuschließen, daß der V-Mann Klaus-Dieter Loudil „sich beim Umbau des Feuerlöschers zum Sprengsatz beteiligt hat“. Die Grünen zitieren sogar einen Vermerk, aus dem dies klar hervorgeht: „Den Bau des noch erforderlichen Zünders hat VM 932 (der gelernte Büchsenmacher und V-Mann Loudil) mit dem Hinweis auf fehlendes Material zeitlich hinausgeschoben“, heißt es da eindeutig in den Akten des Verfassungsschutzes.

Mit dem Celler Verfassungsschutzanschlag ist getreu der Methode des Versicherungsdetektivs Werner Mauss nur „erfolgreich verhindert“ worden, was als Agents provocateurs tätige Straftäter in Diensten des Verfassungsschutzes selbst anzuschieben versuchten. Auch eine Reihe anderer Aussagen Albrechts vor dem Landtag hat der Ausschuß klar widerlegt: So wurde der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht vorab von der Sprengung an der Gefängnismauer unterrichtet, und auch der damalige Hessische Ministerpräsident Holger Börner war keinesfalls in den Plan zur Sprengung eingeweiht, sondern lediglich an der Begnadigung des Straftäters und V -Mannes Loudil beteiligt. Selbst der damalige niedersächsische Innenminister Röttger Groß, so hat der Ausschuß feststellen müssen, wurde damals über die Vorbereitungen für das Celler Loch im dunklen gehalten. Ohne den amtierenden Innenminister zu informieren, quasi auf dem kurzen Dienstweg, konferierte Ernst Albrecht im Jahre 1978 mehrmals persönlich zwecks Vorbereitung des Anschlages mit den Spitzen des Landesamtes für Verfassungsschutz. Diese Ausschaltung des zuständigen Innenministers verstößt nicht nur gegen die Landesverfassung, sie straft auch Albrechts Aussage vor dem Landtag Lügen, wonach die rechtlichen Aspekte des Anschlages gemeinsam von den niedersächsischen Ministerien des Innern und der Justiz vorher sorgfältig geprüft wurden.

Selbst der Vertreter der FDP im Untersuchungsausschuß, der Landtagsabgeordnte Kurt Rehkopf, sprach inzwischen von „einer Falschunterrichtung des Landtages durch den Ministerpräsidenten“. Auch der Vorsitzende des Bombenausschusses Heiner Herbst (CDU) bezeichnete den Inhalt der Regierungserklärung nur noch als „zumindest nicht völlig abwegig“. Gerade die direkte Beteiligung Ernst Albrechts an der Vorbereitung des Celler Lochs spricht dafür, daß er in seiner Regierungserklärung nicht nur fahrlässig die Unwahrheit gesagt, sondern bewußt gelogen hat. Zumindest in einem Punkt glauben die Grünen, Albrecht auch tatsächlich der Lüge überführen zu können. So zählte der Ministerpräsident vor dem Landtag wirklich alles an vermeintlichen Erfolgen infolge des Celler Anschlags auf, was das Papier des Verfassungsschutzes enthielt, mit dem er sich auf seine Regierungserklärung vorbereitete. Damit hätte Ernst Albrecht zumindest mit dem Satz „Ich könnte die Liste verlängern“ in jedem Falle bewußt das Parlament belogen.