Erinnerung an Christian Semler: Wir Paradiesvögel
Es waren Exachtundsechziger, die nach Osteuropa reisten und von einer Welt ohne Mauer träumten. Ein kleines Loblied auf den politischen Irrtum.
Im Oktober 1967 führte Hans Magnus Enzensberger für die Zeitschrift Kursbuch ein Gespräch mit den bekanntesten Gestalten der deutschen Studentenbewegung. In der Diskussion handelte es sich um nichts weniger als um die Chancen der Ablösung des spätkapitalistischen Systems und Begründung eines als rätedemokratisch konzipierten Sozialismus in Westberlin.
Die Teilnehmer machten sich unter anderem darum Sorgen, was im Falle einer siegreichen Revolution mit den Bürokraten geschehen sollte. Einige plädierten für deren Umerziehung, die anderen wollten ihnen lieber die Auswanderung nach Westdeutschland ermöglichen.
Klar war nur, dass diese Kategorie der Menschen für den Zukunftsstaat völlig überflüssig sei, was Christian Semler in verblüffender Klarheit auf den Punkt brachte: „Wenn es die Computer nicht gäbe, müssten sie förmlich erfunden werden für die Räteverfassung. Nur sie ermöglichen es, Informationen zu sammeln, die die Sachentscheidungen der bisherigen Bürokratie ersetzen, und zwar dergestalt, dass es überhaupt keine bürokratische Position mehr gibt, die nicht innerhalb von vierzehn Tagen umbesetzbar wäre.“
Christian Semler: Er war Jurist, Historiker, Sohn des Begründers der CSU, führender Kopf der 68er, Maoist und dann Exmaoist, in den 80er Jahren Unterstützer von Solidarnosc und osteuropäischen Bürgerbewegungen. Von 1989 bis 2013 war er Redakteur, Autor, Kommentator der taz. Und der klügste Kopf dieser Zeitung und ihr historisches Gedächtnis. Als er am 13. Februar 2013 starb, schrieb die taz-Redaktion in einem kollektiv verfassten Nachruf: „Bei ihm wohnte die Ironie, wo bei anderen die Angst sitzt.“
György Dalos: Der 69-Jährige wurde in Budapest geboren und gehörte in den 70er Jahren zu den Mitbegründern der ungarischen Demokratiebewegung. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane und lebt in Berlin.
Zur gleichen Zeit lebte ich in tausend Kilometer Entfernung von der erträumten Berliner Räterepublik, war Mitglied eines konspirativen Budapester maoistischen Studentenzirkels, beziehungsweise wurde meine Mitgliedschaft dort aufgrund einer mangelhaften Selbstkritik soeben suspendiert. Ich kehrte von der Sitzung in tief depressiver Stimmung zurück, saß am Abend allein in meinem Zimmer und hörte Radio.
Der Computer, das Teufelswerk
Irgendein westlicher Sender, vielleicht die BBC, teilte mit, die im bolivianischen Camiri von Gewehrsalven durchsiebte Leiche sei als der ehemalige kubanische Minister für Industrie namens Ernesto Che Guevara, kurz „Che“ identifiziert worden. Dem gehts jetzt gut, dachte ich.
„Kein Kommunismus ist auch keine Lösung“ enthält Texte und Essays von Christian Semler aus der taz, der „Le Monde diplomatique“ und den Zeitschriften „Freibeuter“ und „Kursbuch“. Unter anderem auch diesen Text von György Dalos. Das Buch hat 194 Seiten, erscheint im taz Verlag, herausgegeben von Stefan Reinecke und Mathias Bröckers. Es kostet 12 Euro.
Am Donnerstag, dem 25. April, um 19 Uhr wird das Buch im taz Café in Berlin-Kreuzberg vorgestellt.
Hätte mir damals jemand von dem Inhalt des Gesprächs der deutschen Kommilitonen berichtet, so wäre ich vor allem wegen des Begriffs „Computer“ in Schwierigkeiten geraten, der zu der Zeit in unserem sozialistischen Wörterbuch fehlte. Was sei das für ein Teufelswerk, hätte ich gefragt, das jeden Bürokraten oder gar jedes Zentralkomitee entbehrlich machen würde?
Wir jedenfalls dachten nicht einmal an die Zeiten danach, sondern konzentrierten unsere geistigen Kräfte auf den Punkt des an einem Kneipentisch ausgearbeiteten Programms der Gruppe: „Wir machen kein Hehl daraus, dass unser Ziel der gewaltsame Sturz der sich mit dem Deckmantel des Revisionismus tarnenden bourgeois-bürokratischen Diktatur ist.“
Diesen im Sowjetbarock formulierten Satz honorierte der Staat sehr bald mit Freiheitsentzug, Berufsverbot, teilweise Exil. Das wundervolle Schaltjahr 1968 erwies sich für unsere Generation als persönlich schicksalhaft. Mit unserem „chinesischen“ Sonderweg galten wir in János Kádárs Paradies als Paradiesvögel, und zwar nicht allein wegen der ideologischen Umrahmung unseres Aufruhrs, sondern auch und vielleicht noch mehr wegen des Anspruchs der Konfrontation mit einer nuklear abgesicherten Weltordnung.
Die idealtypische Strategie: Durchwurschteln
In Ungarn, dessen Geschicke seit Jahrhunderten von fremden Mächten bestimmt worden waren, beinhalteten selbst die bescheidenen Absichten, im Rahmen des Systems menschenfreundliche oder nur rationale Besserungen durchzusetzen, etwas Utopisches, und die idealtypische Privatstrategie sowohl des Normalbürgers als auch des feinen Intellektuellen hieß Durchwurschteln. Erst heute wissen wir, dass unsere Wirtschaftsreformer diese wenig heldenhafte Haltung mit den Herrschenden gemeinsam hatten.
Im Sommer 1968 beteiligte sich Kádár höchst unwillig an der Invasion in Prag. Laut Geheimprotokollen hat Leonid Breschnew den ungarischen Parteichef mit folgenden Worten um die Teilnahme an der Aktion ersucht: „Ich bitte dich, János, schickt nur eine winzige Einheit, und ihr bekommt alles, was ihr braucht!“
Was die Budapester Parteiführung tatsächlich bekam, war das Gegenteil dessen, was Kádár erhofft hatte. Moskau zwang die Ungarn, die begonnene Wirtschaftsreform wieder abzuwürgen, nachdem zu deren Realisierung bereits Milliardenkredite aus dem Westen aufgenommen worden waren. So kam es in Ungarn nicht zu einer Entfaltung der Produktion, sondern nur zu erhöhtem Konsum.
Dadurch wurde bereits in den frühen siebziger Jahren eine Zeitbombe gelegt, die später zum Zusammenbruch des Regimes führen sollte. Niemand war bereit, die Rechnungen für den falschen Wohlstand zu begleichen. Vielleicht hat uns anno 1967/68 der Kopf bei der Analyse getäuscht, nicht aber unsere Nase, die die Fäulnis des Bestehenden spüren ließ.
„Genosse, bist du ein Genosse?“
Meine unbekannten Freunde lernte ich erst viel später persönlich kennen. Als meine Reisefreiheit inzwischen so weit gediehen war, dass ich von Ostberlin aus über die Vorwahl 0849 in den Westteil der Stadt anrufen konnte, kam Rudi Dutschke Mitte der siebziger Jahre über die Mauer, wirkte auf mich wie ein marxistisch geschulter Pfarrer aus den Zeiten des Deutschen Bauernkriegs, als er mit seinem unverwechselbaren preußischen Akzent die Frage stellte: „Genosse, bist du ein Genosse?“ Und er schenkte mir sein Buch, in dem er den gewagten Versuch unternahm, Lenin vom Kopf auf den Fu zu stellen, mit der Widmung: „Zum Kritisieren geschrieben“.
Später gelangte ich aufgrund der im Schlussakt von Helsinki kodifizierten menschlichen Erleichterungen auch nach Westberlin, wo ich in den achtziger Jahren nach und nach die Protagonisten der deutschen Studentenbewegung kennenlernte. Allerdings musste ich meine Phantasie anstrengen, um in ihnen die Scharfmacher der Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder den persischen Schah wiederzuerkennen. Das waren besonnene, kritische Geister und, Gott sei Dank, trotzdem keine seelenlosen Pragmatiker.
Was ich als die größte geistige und moralische Leistung von Leuten wie Christian Semler betrachte, war die Umschaltung ihrer revolutionären Energien auf die Solidarität mit den osteuropäischen Bürgerbewegungen. Wie schwer so etwas sein kann, wissen nur die Menschen, welche die Transformation ihres Denkens aus eigener Kraft und im inneren Zwist mit dem eigenen Verratsverdacht durchgemacht haben.
Der lange Marsch von Mao Tse-tung und Ho Chi Minh zu Lech Walesa oder Václav Havel muss mit enormen persönlichen Kosten verbunden gewesen sein. Und dass sie dabei zu keinen Politikern im konventionellen Sinne geworden waren, bezeugten zahlreiche Menschenrechtler der Solidarnosc, der Initiative für Frieden und Menschenrechte, der Charta 77 oder der demokratischen Opposition in Ungarn.
Sie setzten sich in Dissidentenküchen
Denn uns besuchten damals nicht Minister, Bundestagsabgeordnete oder Führer der etablierten Parteien, die sich noch am Vorabend des Kollapses der Ostdiktaturen hauptsächlich um die Entspannungspolitik Sorgen machten, sondern eben diese ehemaligen Achtundsechziger, die Spinner und Phantasten von Berlin und Frankfurt, die sich durchaus eine Welt ohne Mauer und Eisernen Vorhang vorstellen konnten.
Sie kamen, setzten sich in die Dissidentenküchen, als wären sie zu Hause, plauderten mit uns als ernstzunehmende Partner, schmuggelten über die bewachten Blockgrenzen unsere Manuskripte und bestätigten damit die Rechtmäßigkeit der osteuropäischen Hoffnungen.
Was mir an Christian Semler am meisten fehlen wird, ist seine Bereitschaft, über die Demokratie des Ostens mitzudenken. Ich muss nämlich zugeben, dass wir, die wir damals in den siebziger/achtziger Jahren mutiger dachten, als wir redeten, heute mehr als zwanzig Jahre nach der Wende mit lockerer Zunge sprechen, während es uns an Mut zu denken mangelt.
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