Erholung von Tschernobyl: Gelangweilt im Wunderland

In einem brandenburgischen Ferienlager sollen sich zehn weißrussische Kinder von den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe erholen. Doch die Ruhe ist den Kindern schnell langweilig geworden und jetzt wollen sie vor allem eins: nach Hause

Tschernobyl: in den ersten Tagen nach der Kernkraftwerksexplosion Bild: AP

Der Unfall im Atomreaktor von Tschernobyl am 26. April 1986 ist bis heute der schwerste weltweit. Laut Greenpeace sind in der Folge mindestens 93.000 Menschen an Krebs gestorben oder werden noch sterben. Überhitzter Dampf hatte eine Reihe von Explosionen ausgelöst, der Brand jagte den Stahl- und Betondeckel des Reaktors in die Luft. Während der folgenden zehn Tage wurden große Mengen Spaltprodukte und Kernbrennstoffe freigesetzt. Drei Wolken trugen die Stoffe nach Russland und weite Teile Europas. In Deutschland traf es vor allem den Süden, wo Gebiete, in denen es regnete, bis heute teils stark belastet sind. PEZ

Zwischen dürren Kiefern liegen ein paar Bungalows. Die grauen, rissigen Fassaden zeugen von ihrer Vergangenheit als DDR-Ferienlager, die Trampelpfade zwischen den flachen Häusern sind holprig und mit Zapfen von Kiefern übersät. "Wald, die Häuser, der See da hinten, es ist wie zu Hause", sagt Joscha.

Der Siebenjährige sitzt auf einer Bank vor dem Flachbau, in dem er zusammen mit neun anderen Kindern aus Weißrussland seine Ferien verbringt. Im Wald des Erholungslagers "Kiez Frauensee", das eineinhalb Kilometer entfernt liegt vom nächsten Dorf, sollen sich die Schüler vier Wochen lang von den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe erholen. Sie kommen aus der Kleinstadt Leltschitsi. Als vor 22 Jahren der Atomreaktor in dem ukrainischen Werk in die Luft ging, waren sie 300 Kilometer entfernt.

Bis heute müssen sie Vitamine schlucken, ihre Gesundheit ist angegriffen. "Bei uns sterben auch immer sehr viele Menschen, die meisten haben Probleme mit der Schilddrüse", erzählt die Lehrerin Valentsina Butkowets, die die Gruppe begleitet. Milch und Gemüse seien weiterhin sehr belastet; für "saubere" Nahrung aus Minsk aber fehlt dem Großteil der 13.000 Einwohner der Stadt das Geld. Der Aufenthalt in der Nähe von Königs Wusterhausen soll den acht Jungen und zwei Mädchen ermöglichen, sich wenigstens für eine kurze Zeit zu erholen und gesund zu leben.

Die Schüler sagen, sie hätten damit gerechnet, in Gastfamilien in Berlin aufgenommen zu werden. Sie hatten sich darauf gefreut, jetzt sitzen sie in den abgewirtschafteten Plattenbauten des früheren Pionierlagers Kalinin und sind enttäuscht. Seit drei Wochen haben Joscha und seine Schulfreunde zwei Pedalos und zwei Paar Stelzen zur Unterhaltung. Viel mehr nicht. Die Pedalos funktionieren auf dem holperigen Waldboden nicht wirklich, die Stelzen sind umso begehrter. Wer klein und schmächtig ist wie Joscha, hat das Nachsehen. Verloren und einsam sitzt der Junge am Rande der Bank. Was er denn so erlebt habe in den letzten Wochen? "Ein Angler war ein paar Tage da, der hat mich immer zum See mitgekommen", erzählt der Junge auf Russisch. Die Erinnerung an die Tage lassen die Augen leuchten.

Als der Angler abreiste, kehrte die Langeweile zurück. Es fehlt an Bällen, es fehlt an Spielen, es fehlt ein Programm. In dem Ferienlager halten sich vor allem Schulgruppen und Familien auf, die sich selbst beschäftigen. Austausch gibt es kaum - das weitläufige Gelände macht ein anonymes Nebeneinander möglich. Die Leiterin des "Kiezes Frauensee" weiß nach drei Wochen noch nicht, wo die Tschernobyl-Gruppe eigentlich herkommt.

Macht die ukrainische Gruppe, die sich zeitgleich im Lager aufhält, Ausflüge nach Potsdam oder in die Umgebung, bleiben die Weißrussen zurück. Die Ukrainer nämlich haben eigenes Geld, von den weißrussischen Kindern haben nur zwei ein paar Euros, die gerade mal für Kaugummis vom Kiosk reichen.

Was machen die Kinder hier? Die Frage geht an Hartmut Köppler, der die Gruppe in die Waldbungalows holte. Köppler unterstützt von Weimar aus seit Jahren Tschernobyl-Opfer. Er sagt, er bezahle alles aus eigener Tasche und sehe darin seine Lebensaufgabe. Die Übernachtung im Ferienlager mit Vollpension kostet 17,50 Euro pro Tag und Person, dazu kommt die Bahnfahrt. Für die Ausleihe von Fahrrädern oder eine Runde auf den Shetlandponys im "Kiez" bleibt nichts übrig. Er könne auch nichts dafür, wenn die Kinder kein eigenes Geld mitbrächten.

Köppler erklärt, er habe die Kinder zu Untersuchungszwecken hergeholt. Er arbeite mit einem weißrussischen Mediziner zusammen, der eine neue Methode zur Behandlung von Strahlenopfern entwickelt habe. Eine Pektin-Verbindung, regelmäßig eingenommen, soll Uran im Körper abbauen. Unabhängige Messungen seien bislang nur hier möglich, sagt der Ingenieur. Auf seinen Partner in Weißrussland seien zwei Attentate verübt worden. "Leider haben die Ärzte der Charité kurzfristig abgesagt." Daher habe er die Kinder gar nicht untersuchen lassen können.

Gabriele Gaßner vom Verein "Hilfe für krebskranke Tschernobylkinder" schüttelt darüber nur den Kopf. "Köppler hat ja ganz ehrenwerte Absichten", sagt das Vorstandsmitglied des Vereins, der mit dem Gütesiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI) ausgezeichnet ist. "Er bemüht sich, diese Heilmethode zu untermauern." Natürlich helfe jede Kur und jede Erholung - aber die Gruppe mehr oder weniger dort sich selbst zu überlassen, sei kein akzeptabler Weg. Gaßner und ihre Mitarbeiter laden regelmäßig Jugendliche aus den strahlenbelasteten Gebieten ein und betreuen sie in Berlin medizinisch und pädagogisch.

Sie bekennt, dass die "Tschernobyl-Hilfsszene" unübersichtlich und "etwas schwierig" ist. Zahlreiche Gruppen existierten nebeneinander. Tanja Ibrahim, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DZI, bestätigt: "Privatinitiativen sind nicht verboten." Es könne höchstens das Ordnungsamt eingeschaltet werden, wenn der Verdacht besteht, dass es den Kindern hier nicht besser geht als zu Hause. Das DZI verleiht ein Gütesiegel, für das Bilanzen geprüft und Werbestrategien untersucht werden genauso wie die Managementstrukturen. Außerdem muss das Finanzamt die Gemeinnützigkeit bestätigen.

Lehrerin Butkowets im "Kiez Frauensee" sagt, dass es Joscha und seinen Kameraden ja nicht wirklich schlecht gehe. Sie wisse nur nicht mehr, wie sie die Kinder beschäftigen solle. Die 28-Jährige scheint resigniert. Ihre Niedergeschlagenheit wirkt ansteckend, die Stimmung im Feriencamp ist merkwürdig dumpf - obwohl sich die Sonne bis zu den Holzbänken ihren Weg gebahnt hat, obwohl die Luft sauber ist und der See nicht weit.

Der Grat zwischen Mitleid und Unverständnis über die Aktion Köpplers ist schmal: Da sind die vor Schmutz starrenden Jogginghosen der Jungs, die dünnen Arme des blonden Mädchens, die schiefen Zähne. Und da ist die Presseeinladung vom Berliner Verein "Musik gegen Gewalt", in der es heißt: "Alle Kinder, die an diesem Ferienlager teilnehmen, werden nicht mehr lange auf Erden weilen." Aber Kinder sind einfach Kinder, sie wollen beschäftigt werden. Die schweren Gesundheitsschäden sind ihnen zumindest nicht anzumerken.

Dazu kommt das Beispiel Joschas: Über den Jungen erzählte die unterstützende Kampagne "Musik gegen Gewalt", er besitze lediglich den Trainingsanzug, den er am Leibe trage. Der Anzug sieht in der Tat aus, als sei er lange nicht mehr gewaschen worden. Die 28-jährige Lehrerin Butkowets, die nie lächelt, widerspricht jedoch: "Der Großvater von Joscha hat doch das dickste Auto in der Stadt, und seine Oma arbeitet in der Bank." Joscha selbst sagt, er freue sich auf die Rückkehr nach Leltschitsi. "Da sind meine Schwestern, und da habe ich wenigstens einen Computer."

Der Verein "Musik gegen Gewalt" unterstützt seit kurzem den Aufenthalt der Kinder. Sprecher Holger Werner hat über einen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks, der vor Ort war, von dem Projekt gehört und sich spontan eingeschaltet. "Das muss künftig ganz anders hochgezogen werden", sagt er. "Musik gegen Gewalt" will nun vor allem mit etablierten Organisationen wie der von Gabriele Gaßner zusammenarbeiten und Köppler in den Ruhestand schicken. Direkte Kritik an Tschernobyl-Helfer Köppler vermeidet Werner gleichwohl. Zwar sei er anfangs sauer gewesen über die schlechte Organisation, sagt er. "Aber Herr Köppler wird ja auch immer älter, er hat die Kinder mit eigenem Geld geholt und sich dann verkalkuliert."

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