Erfolgreicher Fußball aus Mainz: Der Tuchel-Turm
Thomas Tuchel trainiert den Bundesliga-Tabellenführer Mainz 05. Mit viel Idealismus und Improvisation. Trotzdem wäre es gut, wenn sie gegen die Bayern verlieren.
MAINZ taz | Der mit Folie umwickelte Stapel Holzpaletten am Rande des Trainingsplatzes neben dem Mainzer Bruchwegstadion wirkt wie bestellt und nicht abgeholt. Wer nicht wüsste, wofür das Provisorium gut ist, der könnte denken, ein Spediteur habe auf der Böschung Unrat abgeladen. Ein Trugschluss.
Längst wird dieses Gebilde hier "Tuchel-Turm" genannt, weil es kein besseres Symbol für die Improvisationskünste eines Bundesligisten geben könnte, der gerade dabei ist, die hierarchischen Gebilde einer maßgeblich von den Finanzmitteln bestimmten Leistungsgesellschaft aufzubrechen. Ein Turm, benannt nach Thomas Tuchel, 37, dem jüngsten Fußballlehrer der Branche.
Auch vor dem Heimspiel am Dienstag gegen den 1. FC Köln (20 Uhr) bedient sich der ehemalige Zweitliga-Spieler der Stuttgarter Kickers, der mit 25 Jahren seine Karriere wegen einer Knorpelverletzung aufgeben musste, seiner eigentümlichen Methoden und Marotten. Dazu zählen ein maßgeschneiderter "Matchplan" für jeden Gegner und regelmäßige Trainingseinheiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Dabei klettert ein Videospezialist auf besagtes Gestell aus Holzpaletten, um Spielformen und Spielzüge zu filmen. Für jede Partie bekommen die Profis klare Handlungsanweisungen, "daher sind drei Spiele innerhalb von acht Tagen für uns sehr, sehr anstrengend", sagt Tuchel. Gegen defensive Kölner kommt es Tuchel darauf an, den Gegner - anders als beim 2:0 in Bremen -permanent zu "bespielen". Eine typische Wortschöpfung aus der Mainzer Wohlfühloase.
Tuchel betreibt eine beachtenswerte Weiterentwicklung, weil Mainz trotz bescheidenen Etats deutlich besser ausstaffierte Größen wie den 1. FC Köln oder Eintracht Frankfurt zu überholen droht. Das Tuchel-Konstrukt ist bemerkenswert, fußt es doch auf fast idealistischen Grundwerten. Die höchsten Güter: Respekt und Vertrauen. Nie würde ein Betreuer hier um den halben Platz rennen, um dem Profi eine Getränkeflasche zu reichen, die dieser achtlos liegen lässt. "Es gibt ganz klare Regeln für unsere Mannschaft", erzählt Tuchel, "die beginnen mit dem In-die-Augen-Schauen beim Begrüßen. Bei uns darf es keine Revanchefouls beim Training geben. Bei uns wird niemand mit Nachnamen angesprochen."
In seine taktischen Überlegungen weiht der Trainer zudem ständig die Führungsspieler ein: "Ich möchte nicht, dass meine Spieler einer Idee hinterherhecheln, mit der sie sich gar nicht identifizieren." Der Kader hängt dem Vordenker förmlich an den Lippen, was Manager Christian Heidel, 47, mit Stolz erfüllt. "Unser Trainer hat für alles einen Plan. Er bereitet schon jedes Training vor wie ein Beamter."
In der nächsten Saison spielt sein Klub in einem nagelneuen Stadion am Mainzer Europakreisel. Mainz 05 soll dauerhaft erste Anlaufstelle für 18- bis 23-jährige Talente werden. Beinahe unbemerkt hat der Verein schon jetzt jede Position in seinem Kader doppelt besetzt - auch dank des prämierten Nachwuchsleistungszentrums, aus dem nicht nur André Schürrle, 19, stammt. Eine weitere Säule ist die fantasievolle Personalpolitik. Der von Schalke entliehene Spielmacher Lewis Holtby, 20, etwa spielt eine Schlüsselrolle in einem Konzept, das auf Leidenschaft und Laufbereitschaft, aber auch Inspiration und Initiative setzt.
Heidel glaubt: "Das ist noch lange nicht das Ende der Entwicklung." Und dann? Mit Schürrle wird der erste Jungstar 2011 zu einem großen Klub (Bayer Leverkusen) weiterziehen. Beim Trainer könnte ein ähnliches Szenario drohen. Insofern wäre es vielleicht gar nicht so schlecht, würden die Himmelsstürmer spätestens am Samstag geerdet. Dann führen die Mainzer ihren Matchplan beim FC Bayern vor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht