Erdbebenvorsorge: Wenn Istanbul bebt
Nach einem verheerenden Erdbeben in der Nähe Istanbuls vor 18 Jahren fühlen sich die Menschen in diesem Gebiet nicht ausreichend geschützt.
Mit einer Stärke von 7,6 bebte in der Nacht des 17. August 1999 die Erde im Epizentrum Gölcük in der Marmararegion. Offiziellen Angaben zufolge kamen bei einem der schwersten Erdbeben der Türkei 18.000 Menschen ums Leben. Nach den Zerstörungen wurde eine Stadterneuerung gegen das Erdbebenrisiko eingeleitet. Doch statt die Gebiete zu sanieren, die bei einem eventuellen Beben besonders stark betroffen sein würden, konzentrierte man sich auf Gegenden mit hoher Rendite und niedrigem Erdbebenrisiko.
Nach dem Regierungsantritt der AKP 2002 wurde die unter dem Label „Erdbebenrisiko“ eingeleitete Stadterneuerung vor allem als Instrument benutzt, um AKP-nahen Bauunternehmern Rendite zuzuschanzen. Seismologen zufolge sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Erde in der Marmararegion in naher Zukunft erneut so stark beben könnte, sehr hoch.
Inwieweit hat die Stadt Istanbul sich, die ebenfalls im Erdbebengebiet liegt, auf ein kommendes Erdbeben vorbereitet? Beim Blick auf die Karte der aktuellen Risikogebiete von Istanbul des Umwelt- und Städtebauministeriums fallen zwei Punkte auf: Die vom Ministerium unter dem Vorwand als „Risikogebiet“ ausgewiesenen Orte sind genau jene Viertel, die der Staat als „Gefährder“ betrachtet und diskriminiert.
Dort leben Menschen, die ideologisch anders denken als von der Regierung gewünscht. In diese Kategorie fallen Bezirke sowohl auf der europäischen Seite als auch auf der asiatischen Seite und sind Gebiete und sind klassische Arbeiterviertel, die derzeit von der Gentrifizierung betroffen sind. So wie Sarıyer/Derbent und Armutlu, Okmeydanı, Fikirtepe und Kanarya.
Hazal Ocak, 1990 in Adana geboren. Sie hat an der Istanbuler Universität Journalistik studiert. Seit 2012 arbeitet sie für die Tageszeitug Cumhuriyet und ist dort zuständig für die Themen Stadtentwicklung und Umwelt. 2015 wurde sie vom türkischen Journalistenverband "Cagdas Gazeteciler Dernegi" mit dem Behzat-Miser-Journalistenpreis ausgezeichnet. 2016 war sie im Rahmen eines Recherchestipendiums zwei Monate Gastredakteurin bei der taz.
Statt sanfter Erneuerung: rentable Stadterneuerung
Der zweite Punkt betrifft wertvolle Gebiete, die hohe Rendite bringen können. Die dort neu errichteten Gebäude werden weit über Wert verkauft, wie Etiler, Beyoğlu oder Kadıköy. In den meisten der Bezirke, die wegen vermeintlichem Erdbebenrisiko unter die Stadterneuerung fallen, wurden mehrstöckige Wohngebäude und Hotels hochgezogen, deren Kosten sich auf mehrere Milliarden Lira belaufen. Unter diesen Projekten stehen die Namen von regierungsnahen Unternehmen.
Hüseyin Sağ, der für die CHP im Stadtparlament von Istanbul sitzt, erklärt die Vorgänge folgendermaßen: „Das Wort Stadterneuerung klingt super, was aber tun die Umsetzenden unter dem Etikett Stadterneuerung tatsächlich? Von den wenigen rentablen Immobilien im Stadtzentrum werden die ursprünglichen Eigentümer vertrieben, ihre Grundstücke aufgekauft. Mit der öffentlichen Hand kann Ihr Wohngebiet über Nacht zur Risikozone erklärt werden und für sie beginnt damit die Vertreibung aus dem Stadtzentrum in die Außenbezirke.“
Die Unternehmer sorgten dafür, dass die Änderung des Bebauungsplans im Stadtrat auf die Tagungsordnung kommen. Auf diese Weise gelangten sie – trotz negativer Gutachten – zur Abstimmung im Stadtrat und findige Bauunternehmer mit Stimmenmehrheit an ihre Rendite. „Priorität haben die Bebauungsrendite, nicht das Erdbebenrisiko“, so Sağ.
Risikogebiete in der Warteschleife
Die Gebiete mit Erdbebenrisiko ersten Grades, die auf den von der Regierung 2011 mit dem Ziel „10 Millionen Wohnungen in 10 Jahren“ aufgestellten Stadterneuerungsplänen ausgewiesen sind, werden ausgelassen. In den Risikozonen zweiten Grades aber laufen die Bauarbeiten längst. Das deckte die Internationale Agentur für Zusammenarbeit Japan (JICA) mit ihrer Studien zum Erdbebenrisiko in Istanbul auf. Zwischen der Karte der von JICA im vergangenen Jahr festgestellten Risikogebiete und der Erdbeben-Hauptrisiko-Karte für die Stadterneuerung vom Ministerium besteht ein eklatanter Unterschied von über 70 Prozent.
Im Bericht des Ministeriums zeigt sich, dass mit der Stadterneuerung nicht in den am stärksten gefährdeten Gebieten begonnen wurde, sondern in Zonen geringen Risikos. In den Kreisen auf dem Erdbebengürtel ersten Grades finden laut Bericht keine oder nahezu keine Risikozonenarbeiten statt. Auffällig ist, dass die als Risikozonen ausgewiesenen Bezirke im Stadtzentrum in Gebieten mit hohem Wohnwert liegen. Laut Bericht ergab die Analyse für ein Gebiet von 9 Millionen Einwohnern für ein Erdbeben der Stärke 7,5 oder 7,7 in Istanbul folgendes Szenario:
-bis zu 60.000 stark beschädigte Gebäude
-etwa 600.000 obdachlose Familien
-ca. 90.000 Toten und 130.000 Schwerverletzte
-etwa 50 Millionen Tonnen Schutt
-rund 40 Milliarden US-Dollar finanzieller Verlust
-und ein Rettungseinsatz für eine Million Menschen.
Bereits jetzt hat Istanbul Probleme
In den hochwertigen Quartieren im Stadtzentrum kämpfen die Menschen seit Jahren darum, ihre Häuser und Wohnungen nicht zu verlieren. Dennoch lässt das Kapital sie nicht in Ruhe. Auf der Karte des Ministeriums fällt auf, dass in Beşiktaş nur der Bezirk Etiler und in Beyoğlu nur das İstiklal-Quartier als gefährdet ausgewiesen sind.Zudem ist auf der Karte des Ministeriums zu sehen, dass einige der als Risikozonen ausgezeichneten Gebiete in Istanbul nahe an Autobahnen liegen. Manche als gefährdet ausgewiesene Gebiete umfassen noch nicht einmal ganze Viertel.
Auf dem Naturkatastrophen-Not-Aktionsplan für Istanbul, aufgestellt nach dem Erdbeben 1999, sind 493 Freiflächen als Sammelplätze vorgesehen. Stillschweigend wurden drei Viertel dieser Plätze zur Bebauung freigegeben. Meist wurden sie mit Einkaufszentren und Hochhäusern bebaut. Die betroffenen Berufsverbände bemühen sich derzeit, eine aktuelle Karte zu erstellen, kommen aber nur mit extremer Mühe an Informationen. Die meisten der als Sammelplätze bei Erdbeben vorgesehenen Freiflächen wurden vom Umwelt- und Städtebauministerium zur Bebauung freigegeben.
Der Vorsitzende des Bauingenieurverbands im Dachverband der türkischen Ingenieurs- und Architektenkammern TMMOB, Cemal Gökçe sieht bereits jetzt die Folgen der unzulässigen Bebauung: „Die Stadterneuerungsmaßnahmen schaffen neue Probleme: alles wird einbetoniert, was zur Fiolge hat, dass die Erde kein Regenwasser mehr aufnehmen kann. Überflutungen und Wassereinbrüche bedrohen Istanbul. Die Luftverschmutzung ist gestiegen. Wolkenkratzer verstellen den einfallenden Winden den Weg. Der Stadt bleibt die Luft weg.“
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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