Erdbeben auf Haiti: Ein Haufen Schutt
Nach dem Erdbeben auf Haiti: Wer es noch kann, gräbt mit Händen nach Überlebenden. Gerade die Slums in Port-au-Prince sind stark betroffen. Glücklich ist, wer noch lebt.
Den Überlebenden bot sich ein Bild des Grauens. Nur wenige Minuten nachdem in Port-au-Prince die Erde mit einer Stärke von 7 auf der Richterskala gebebt hatte, waren die Straßen in eine dichte Staubwolke gehüllt. Hilfeschreie erfüllten die engen Gassen zwischen den Hütten der Armenviertel. Dann versuchten selbst Verletzte verzweifelt, mit bloßen Händen nach Angehörigen und Überlebenden in den Schutthaufen zu graben, die sich bis auf die Straßen erstreckten.
Leere Fensterhöhlen und Holzplanken, die sich in den Himmel reckten, bildeten bald eine bizarre Kulisse, als nach knapp einer Stunde die Sonne unterging. Ohne Strom und damit ohne Licht, Telefon oder Radio verbrachten die Menschen eine Nacht auf den Straßen und beteten. Nach Berichten von Augenzeugen kauerten sich Menschenmassen um die wenigen noch brennenden Lichter in der fast stockfinsteren Nacht zusammen, immer in Todesangst vor neuen Nachbeben.
Am Tag danach herrschte im Stadtzentrum Chaos. Auf Fotos ist zu sehen, wie Frauen und Männer an Kinderleichen zerren und vergeblich versuchen, sie im Kofferraum von Schrottautos oder einfach auf dem Straßenboden wiederzubeleben. Frauen schreien gestikulierend ihren Schmerz heraus. Kinder in zerrissenen Schuluniformen irren durch die Straßen.
Gleich geht die Sonne auf. Die Nachbeben gehen weiter. Wie sollen wir nur beschreiben, was wir seit fünf Uhr gestern Nachmittag gehört und gesehen haben?
Ein paar Dinge können wir bestätigen. Ja, der vierstöckige Caribbean Market ist vollständig zerstört. Ja, er war offen. Ja, der Nationalpalast ist eingestürzt. Ja, Regierungsgebäude in der Nähe auch. Ja, unzählige, unzählige andere Häuser, Kirchen, Krankenhäuser, Schulen und Unternehmen sind eingestürzt.
Tausende Menschen sind verschüttet. Kann man ihre Zahl schätzen? Genauso gut kann man die Regentropfen im Ozean schätzen. Wenn man sie aus den Trümmern zieht, kann man sie nirgends hinbringen, denn in Haiti ist medizinische Versorgung für das Volk kaum existent.
Als das Erdbeben begann, dauerte es viele Sekunden, überhaupt zu begreifen, was passiert. Das Haus schaukelte hin und her. Es fühlte sich falsch an. Es fühlte sich an wie im Film. Überall krachten Dinge herunter. Es fühlte sich an wie der Weltuntergang. Ich weiß nicht, warum mein Haus steht und meine Kinder im Bett schlafen. Es macht keinen Sinn, dass meine Babys verschont geblieben sind und tausende andere nicht.
Der Horror hat gerade erst begonnen.
Aus einem Eintrag von Mittwoch früh im haitianischen Blog www.livesayhaiti.blogspot.com/
Das Beben ereignete sich am Dienstag kurz vor 17 Uhr Ortszeit, genau zum Ende des Schultags. Es dauerte keine Minute. Sein Epizentrum lag 15 Kilometer westlich von Port-au-Prince in einer Tiefe von rund einem Kilometer, was der Grund für seine verheerenden Auswirkungen ist. "Zuerst dachte ich, ein Auto sei in meines hineingefahren", berichtete der Radiojournalist Carel Pedre, der gerade am Steuer saß. Zuerst sei ihm gar nichts aufgefallen, bis er dann seine Tochter von der Schule abholen wollte. "Um mich herum waren die Häuser alle eingestürzt, überall lagen Verwundete. Ich habe mindestens 500 gezählt."
Rund um den normalerweise weiß leuchtenden Sitz des haitianischen Staatspräsidenten sind zahlreiche Gebäude eingestürzt. Der dem Kapitol in Washington nachempfundene Prachtbau ist zusammengebrochen, über die ganze Länge eingestürzt, und er reicht kaum mehr über den ersten Stock hinaus. Die mächtige Mittelkuppel, auf der jeden Tag stolz die blau-rote Fahne der ersten unabhängigen Republik Lateinamerikas aufgezogen worden war, ist einfach eingeknickt. Der Regierungspalast selbst wird wohl über lange Jahre nicht mehr den Staatschef beherbergen können. Ebenfalls schwer beschädigt ist das Luxushotel Montana, unter dessen Ruinen vermutlich 200 Menschen verschüttet wurden.
"Wenn diese stabilen Gebäude beschädigt sind, können Sie sich vorstellen, was mit all den wackligen Behausungen an den Hängen rund um Port-au-Prince passiert ist", sagte Raymond Joseph, der haitianische Botschafter in den USA. Die bekannte haitianische Theaterautorin Ezili Danto schreibt in ihrem Blog: "All die Armen, die auf den Berghängen lebten, in Häusern auf den Bergen, haben schwer gelitten. Wir hören, dass diese Häuser aller heruntergepurzelt sind, eins über das andere." Sie zitiert einen Anrufer aus Port-au-Prince: "Alle, reich und arm, haben auf den Bergen gebaut, und die Berge sind zusammengefallen. Dies ist Ground Zero."
Eduard Aimé, Mitarbeiter des Malteser-Hilfsdiensts, bestätigte: "Die auf den Hügeln gebauten Slums sind einfach in einer Schlammlawine komplett abgerutscht."
Manche hatten Glück. Das Bürogebäude der Diakonie Katastrophenhilfe wurde nur leicht beschädigt. "Eine Mitarbeiterin wurde leicht verletzt", berichtete telefonisch die Lokalchefin der deutschen Hilfsorganisation, Astrid Nissen, kurz bevor die Verbindung wieder abbrach. Die Angestellte in ein Krankenhaus zu bringen sei allerdings unmöglich gewesen. Das nächstgelegene Hospital des teils deutsch finanzierten kirchlichen Hilfswerks Unsere kleinen Brüder und Schwestern sei weitgehend zusammengestürzt.
Mit schwerem Bergungsgerät hätten Helfer versucht, die Verschütteten aus den Trümmern zu bergen. "Viele Straßen sind blockiert, wir sind kaum durchgekommen", sagt Astrid Nissen. In der näheren Umgebung der Diakonie Katastrophenhilfe lagen Leichen auf der Straße. "Ich befürchte das Schlimmste", so Nissen. "Die Menschen haben in schierer Verzweiflung mit den bloßen Händen gegraben."
Erschwert wird die Situation auch dadurch, dass die UN-Friedenstruppe Minustah selbst schwer von dem Beben betroffen ist. Ihr fünfstöckiges Verwaltungsgebäude ist eingestürzt und hat eine noch unbekannte, vermutlich dreistellige Zahl von Blauhelmsoldaten und Zivilangestellten aus aller Welt unter den Betonmassen begraben. Der Leiter der UN-Nothilfeorganisation OCHA wird vermisst, seine Familie soll unter den Trümmern des eingestürzten Privathauses liegen. Vermisst werden auch der Chef der Blauhelmmission selbst, der Tunesier Hédi Annabi, und sein Mitarbeiterstab.
Dadurch, dass auch Hilfsorganisationen betroffen sind, werden Hilfsaktionen zusätzlich erschwert. Zahlreiche Hilfswerke kündigten groß angelegte Hilfseinsätze an. Das Internationale Rote Kreuz spricht von drei Millionen Betroffenen insgesamt - nicht nur Bewohner der haitianischen Hauptstadt, sondern auch die der vielen schwer zu erreichenden kleinen Ortschaften in der Umgebung.
So wird das volle Ausmaß der Katastrophe erst in den nächsten Tagen deutlich werden. Eine Mitarbeiterin des Hilfswerks Oxfam berichtete: "Über dem Tal südlich der Stadt steht eine dichte Rauchwolke. An jeder Ecke hören wir, wie Leute um Hilfe schreien." Haitis Botschafter in den USA, Raymond Joseph, sagte: "Was wir jetzt am dringendsten brauchen, ist ein Krankenhausschiff vor der Küste."
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