■ Er sagte „Erich“ zum Parteichef Honecker, und der sagte „mein Bester“ zu ihm. Er war amerikanischer Oberst und sowjetischer Spion, er hat den Chef der IG-Farben verhaftet, und er sollte den Nobelpreis erhalten. Für die „New York Times“ war Jürgen Kuczynski „der Guru der DDR“, für die FAZ „der Mann, der Honecker die Ideen gab“. Doch die SED hat den Träger des Lenin-Ordens immer wieder abgestraft, und eines seiner späten Bücher wurde zum Dissidenten-Kultbuch. Arno Luik traf in Berlin einen widersprüchlihen Wirtschaftshistoriker, der immer noch auf den Sozialismus hofft und sagt, vor der Wende wäre er „als alter Kommunist mit einem großen Glücksgefühl gestorben“. Und jetzt?: „Gut, Sie können sagen: Man soll draufgehen“
Er geht abends immer sehr früh ins Bett, so kurz nach 19 Uhr. Als seine Frau noch gesund war, hat sie ihn immer die steile Treppe hochgeführt, das mochte er sehr – doch nun ist sie krank. Wenn sie stirbt, hat er ihr gesagt, würde er sich umbringen. 67 Jahre sind sie nun verheiratet.
Neulich ist er nachts aufgewacht, und da wurde ihm klar, daß ich der fruchtbarste Wissenschaftler der Weltgeschichte bin. Bisher habe ich rund 4000 Veröffentlichungen, leider hat die Quantität, im Vergleich zu Hegel und Marx, nicht in Qualität umgeschlagen. Ich bin eben, wie mein Vater von sich sagte, nur first rate second class. Aber das kann ertragen werden.
II. DIE ZIGARRE
Der Alte sitzt in seinem gepolsterten Lederstuhl, leicht nach vorne gelehnt. Er schaut auf den Frager herunter, mit blauen, kühlen Augen, die gar nicht in dieses Gesicht passen mit den tiefen Tränensäcken, den schroffen Falten, den Spuren aus 90 Jahren Kampf: Erst die Nazi-Studenten, die ihn, den Juden, 1924 aus der Mensa in Erlangen prügelten. Dann die Hitler-Faschisten, die er bis 1936 in der Illegalität bekämpfte. Das Internierungslager in England, weil er für den Hitler-Stalin-Pakt agitierte, wilde Streiks propagierte und wohl auch für die Sowjets spionierte.
Nach der mitgebrachten Zigarre, einer Havanna, hat er gierig wie ein Junkie gegrifffen. Ha, ich rauche schon seit 70 Jahren, und ich kann Ihnen auch genau sagen, wann ich das letzte Mal rauche: Im Baumschulenweg. Dort ist unser Krematorium.
III. DAS NEUE DEUTSCHLAND
In der sozialistischen Tageszeitung, deren ehemaliger Chefredakteur Günter Schabowski es tatsächlich mal geschafft hat, das Foto Erich Honeckers in einer einzigen Ausgabe 43mal zu drucken, möchte kaum jemand über Jürgen Kuczynski reden, jedenfalls nicht, um zitiert zu werden. Der Alte aus Weißensee galt im Zentralorgan der Partei als Günstling des Staatsratsvorsitzenden. Honecker, sagt Jürgen Kuczynski, war mein Sprachrohr und Briefträger.
Aber lästig war es, daß die Artikel des schreibsüchtigen Wissenschaftlers immer unaufgefordert in der Redaktion einliefen. Sie waren voll mit Durchhalteparolen, es waren Hymnen auf die Weitsicht Honeckers und den einzigartigen Lebensstandard der DDR.
Hinter vorgehaltener Hand habe man manchmal gelacht über den Chefökonomen der DDR oder die Faust in der Tasche geballt – aber gedruckt wurde, was immer er schrieb. Denn die Texte kamen direkt aus dem „großen Haus“, von Honecker, stets versehen mit genauen Plazierungsanweisungen, und die Größe der Überschrift stand auch schon fest.
Kuczynski, erzählt ein Redakteur – „aber nennen Sie bloß meinen Namen nicht!“ –, „hat die Grenzen des guten Geschmacks verletzt. Er hat die Wirtschaftspassagen in Honeckers Reden geschrieben und ihn dafür im ,Neuen Deutschland‘ als weisen Staatsmann gepriesen. So was ist doch peinlich. Er hat die absurde Subventionspolitik gelobt, die ökonomisch totaler Unfug war: Kleingärtner haben Brot an ihre Karnickel verfüttert. Es war billiger als Getreide.“
IV. DAS GELD
„Guten Tag, Herr Kuczynski...“
Haben Sie das Honorar dabei?
„Daß Sie für dieses Gespräch Geld haben wollen, war nicht ausgemacht.“
Ich gebe Ihnen einen leeren Überweisungsvordruck mit, da können Sie dann eintragen, was Sie möchten. Sie müssen wissen, bis vor drei Monaten galt ich, der weltbekannteste kritische Wissenschaftler der DDR, als dem System nahestehend, und entsprechend ist meine Rente gekürzt.
„Herr Kuczynski, Sie...“
Aber ich beklage mich nicht. Mir geht es in dieser verrückten, schrecklichen Welt denkbar gut. Ich schreibe meine hundert Artikel im Jahr, ich veröffentliche meine zwei Bücher pro Jahr, ich werde also noch gebraucht. Tragen Sie in den Scheck ein, was Sie wollen. Aber wenn Sie nichts bezahlen, darf Ihre Geschichte über mich nicht erscheinen.
VII. DER PARTEISOLDAT
Es ist dunkel geworden in Kuczynskis Arbeitsraum. Im Dämmerlicht sitzt der alte Mann zwischen Regalen, überall im Zimmer stehen, liegen Bücher, in den 14 Räumen der Villa, die ihm Walter Ulbricht 1948 besorgt hat, stapeln sie sich bis unter die Decke – wohl mehr als 60 000 Bände, nur die Thurn und Taxische Privatbibliothek ist noch ein bißchen größer.
Kuczynskis Familie hat die Bücher in mehr als 200 Jahren zusammengetragen, die Faschisten haben die Bibliothek zerschlagen, und nach dem Krieg hat Jürgen Kuczynski sie mühsam wieder aufgebaut. Darunter sind bibliophile Schätze, Erstausgaben von Kant und Hegel, aber besonders stolz ist er auf dieses Kommunistische Manifest, der Originalausgabe von 1848, die sein Urgroßvater für 10 Centimes gekauft hat – heute wäre es wohl mehr als 10 000 Mark wert.
Auch Bertolt Brecht hat in dieser Bibliothek seine Spuren hinterlassen: viele der über 2500 Krimis, die hier sind, hat er seinem Freund Kuczynski vermacht. Krimilesen ist sein einziges weltliches Hobby.
Vor 65 Jahren ist Kuczynski der Kommunistischen Partei beigetreten. Daß er das getan hat – keine Sekunde hat er es bereut. Am Anfang hat der junge Genosse noch Schwierigkeiten, die rasanten Schwenks der Komintern und der KP mitzumachen, schimpft auf sich, hält sich für einen tumben Tor, aber bald spurt er. Ist der Partei treu ergeben. Und ist glücklich: Kein Amt, keine Funktion, keine Tätigkeit habe ich seit dem 14. Juli 1930 ausgeübt ohne Billigung oder Auftrag der Partei, es sei denn, die Anregung, der Auftrag kamen direkt aus der Sowjetunion.
In der Partei war Jürgen Kuczynski immer etwas Besonderes: Schließlich war sein Buch über die amerikanischen Arbeiter im Kreml registriert worden; Stalin hielt es für lesenswert gehalten, und noch heute freut sich Kuczynski, daß das KP-Organ „Rote Fahne“ es auf der ersten Seite besprochen hat.
Er war nie ein normaler Genosse. Er war ein Vorzeige-Intellektueller mit internationalem Ruf: als 25jähriger, er war für ein Forschungsstipendium an einer Elite-Universität in die USA gekommen, wurde er zum Chefstatistiker des Amerikanischen Gewerkschaftsbundes und erfand ein System, mit dem sich die Zahl der Arbeitslosen erstmals erfassen ließ.
Seit jener Zeit hat Kuczynski in Tausenden von Aufsätzen die Krise des Kapitalismus beschrieben, sogar die „Weltausbeutungsrate“ ab 1850 berechnet: einen Anstieg um 800 Prozent hat er da ausgemacht, und ihm war immer klar: Der Sturz des kapitalistischen Systems ist unausweichlich, der Endkampf zwischen dem lebenskräftigen Sozialismus und absterbenden Kapitalismus steht bevor.
Bei so viel Wissen war es für die Partei immer klar: Nach der Revolution wird Kuczynski Wirtschaftsminister.
Daß er in der DDR dann doch kein Staatsamt bekam, das schmerzt ihn. Die Sowjets haben da interveniert – weil er Jude war. Er mußte auch sein Amt als Präsident der Deutsch-Sowjetischen Freundesgesellschaft aufgeben – weil er Jude war. Aber über diese Niederlagen redet er nicht so gern. Das würde Zweifel säen, und die sind nicht erlaubt. Zwischentöne sind Krampf im Klassenkampf.
1945 ist die Erziehung des Jürgen Kuczynski zum guten Kommunisten abgeschlossen. Und er ist stolz: auf seinen blinden Gehorsam, seinen Glauben, seine Fähigkeit zur absoluten Disziplin.
VIII. DER FEIGLING
Für Ursula Höntsch ist Jürgen Kuczynski, wenn sie wirklich darüber nachdenkt, „ein feiger Hund“. Ursula Höntsch war in den 60ern eine der bekanntesten Reporterinnen der DDR – bis sie es nicht mehr aushielt, in ihren Porträts „sozialistische Persönlichkeiten“ zu beschreiben, die es in der Wirklichkeit nicht gab. Dann kam es, wie es wohl kommen mußte: Anrufe von der Stasi, Anrufe bei der Chefredaktion, Klagen von Genossen in führenden Positionen: die Höntsch sei zu frech, wohl keine Sozialistin, ihr Job sei Agitation und Propaganda – ob sie das nicht wüßte? Nein, das wußte sie nicht, und das wollte sie nicht.
Ursula Höntsch verweigerte sich, ihren Job bei der „Wochenpost“ gab sie 1968 auf, sie schrieb Romane, und irgendwie hat sie auf so einen wie Kuczynski gehofft. Er galt als jemand, den man fragen konnte, und zwar kritisch, nach dem desolaten Zustand der DDR.
Seine Auftritte, meint die Schriftstellerin Kerstin Hensel, hatten „etwas Religiöses“. Der alte Mann war beeindruckend, eine besondere Figur in der kulturell verelendeten DDR: Jürgen Kuczynski sprach frei, eine Sensation, denn: „Freies Sprechen setzte voraus, daß einer frei dachte.“
Aber der „sehr, sehr faszinierende, der sehr kluge Mensch“ (Höntsch) nutzte seine Fähigkeiten nicht: „Mein Gott, warum hat er nicht erzählt, was er weiß? Was wäre ihm denn passiert, wenn er den Mund aufgemacht hätte? Daß dieser kluge Mann sich einer Disziplin unterworfen hat, die ihm dumme Leute vorgaben! Warum diese Hörigkeit bei großen Leuten, bei der Seghers, bei Becher! Brecht ließ sich mit seinem Theater kaufen, Kuczynski mit seinem Wirtschaftsinstitut. Macht Klugheit feige? Fragen Sie ihn, wie er ruhig schlafen konnte bei dem Fürchterlichen, das hier passierte! Fragen Sie ihn, wie er mit diesem Wissen leben konnte!“
IX. DIE WELTGESCHICHTE
„Herr Kuczynski, empfinden Sie manchmal Scham und Trauer, über das, was in der DDR passiert ist?“
Was heißt Trauer? Man trauert nicht in der Geschichte, man erlebt sie. Und wer die Geschichte kennt, ist zu gewohnt, was alles passiert.
„Knapp 75 Jahre hat das Experiment Kommunismus gedauert – was ist dabei herausgekommen?“
Gar nichts. Und auch von der DDR bleibt nichts übrig.
„Im Namen Ihrer Ideale gab es Millionen Tote. War es das wert?“
Nein, natürlich nicht, nein, es war schrecklich.
„Fühlen Sie Schuld, daß Sie da mitgemacht haben?“
Ich habe nie mitgemacht. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht wußte, was in der Zeit Stalins geschehen ist, die negativen Seiten habe ich bis in die 70er Jahre nicht gekannt. Oder ich habe auch gesagt, man muß damit leben können in dieser schrecklichen Welt. Aber wissen Sie, in der Weltgeschichte sind solche Sachen üblich. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich ein gebildeter Mensch bin, der die letzten 3000 Jahre miterlebt hat.
„Das ehemalige Politbüro-Mitglied Günter Schabowski sagt, er lebe in ,einer unerlösten Situation‘, und er brauche ,ein Purgatorium, ein Fegefeuer, weil ich mitschuldig bin an dem, was da geschehen ist‘.“
Aber hören Sie! Sie können mich doch nicht mit diesem Schabowski vergleichen. Schabowski ist ein ganz übler Kerl, der sich mit solchen Sätzen in Westdeutschland lieb Kind machen will.
„Kurz vor seinem Tode hat Becher gesagt, der Grundirrtum seines Lebens sei gewesen, daß er glaubte, ,der Sozialismus beende die menschliche Tragödie‘.“
Ja, das ist ein sehr trauriges Fazit. In meinem Buch „Dialog mit einem Urenkel“ habe ich gesagt: Ich bejahe das System, aber ich finde tausend kritische Sachen an ihm. 1991 habe ich dann gedacht, ich hätte genau das Gegenteil sagen müssen: Ich verneine das System, aber ich finde tausend gute Sachen an ihm. Heute weiß ich, daß diese Erkenntnis das größte Unglück meines Lebens gewesen wäre: Ich hätte nicht als Feigling leben können, sondern meine Einsicht bekanntgeben müssen. Ich hätte dann nicht mehr schreiben können, ich hätte keinem Menschen mehr helfen können.
„Im Klartext: Sie sind froh über Ihre Blindheit?“
Es gibt Dinge, bei denen ich sage: Das hätte ich erkennen müssen! Aber Sie müssen immer sehen, daß wir in einer Welt des Kapitalismus gelebt haben, und den Kapitalismus hätte ich unserem System nie vorgezogen.
„Ihr Freund Ernst Bloch floh in den kapitalistischen Westen. Er hielt ,die Unfreiheit in der DDR‘ nicht mehr aus.“
Als mein Freund Fritz Behrends Bloch das letzte Mal besuchte, weinte der, weil er nicht zu Besuch in die DDR fahren durfte. Das spricht sowohl für Bloch wie für die DDR. Wenn sie ihm unerträglich gewesen wäre, hätte er gar nicht zurückkommen wollen.
„Herr Kuczynski, Sie sind wirklich ein Gläubiger.“
Der Grundfehler war, daß ich glaubte, vieles, was hier passiert, sind schlimme Dinge an einer prinzipiell guten Sache. Aber ich glaube nicht, daß ich so nützlich gelebt hätte, wenn ich diesen Fehler erkannt hätte. So erging es Becher, so erging es Brecht, so erging es Segher, und so haben wir vielen Menschen geholfen. Ja sicher, ich hatte Angst, meinen Glauben zu verlieren. Das ist die verrückte Geschichte meines Lebens.
XI. DIE TÜR
Die Zigarre hat er fast zu Ende geraucht, mit einem leicht schmatzenden Geräusch hat er immer daran gezogen. Immer öfter schaut Kuczynski auf die Uhr, er mag dieses Gespräch nicht. Die Zeit der Rechtfertigungen ist vorbei. Plötzlich springt er behende auf, schmächtig, merkwürdig zerbrechlich wirkt er in seinem dreiteiligen Anzug, der ein bißchen zerknittert ist. Dem Gast bringt er die Jacke. Mein Guter, wir haben nun genug geplaudert. Auf Wiedersehen. Schlagen Sie die Tür nicht hinter sich zu.
XII. DER TOD
„Herr Kuczynski, vor zehn Jahren haben Sie eine fiktive Leichenrede auf sich gehalten und damals bedauert, vom Leben im Sozialismus Abschied nehmen zu müssen.“
Ha, völlig falsch war das, es war ja kein Sozialismus. Aber es wäre damals ein schöner Tod für einen alten Kommunisten gewesen. Ich bin nicht traurig, daß der Kapitalismus jetzt hier ist.
Doch es ist ein großer Unterschied, ob man mit Verständnis für seine Zeit stirbt, oder mit Glück über seine Zeit. Damals wäre ich mit einem großen Glücksgefühl gestorben.
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