: Entsorgung der Geschichte
■ Zur Veröffentlichung des chilenischen Menschenrechtsberichts
Chile wickelt seine Vergangenheit ab. 1.737 Seiten umfaßt der Bericht der offiziellen Menschenrechtskommission über die Verbrechen der Pinochet-Diktatur, den Präsident Patricio Aylwin am Montag veröffentlichte. 2.279 Schicksale Ermordeter, darunter 2.115 politisch verfolgte Gegner des Regimes, sind jetzt ans Tageslicht gebracht und für jeden einsehbar.
Glasnost in Chile? Das Licht der Öffentlichkeit kann Aufklärung auch verhindern. Gerechtigkeit können die 2.115 Opfer der Pinochet-Diktatur nicht mehr erfahren; sie sind tot. Sühne brauchen die Täter nicht zu fürchten; ihre Namen hat der Präsident nicht zur Veröffentlichung freigegeben, sie bleiben geheim. Geradezu abenteuerlich mutet es an, wenn Aylwin auf die Zuständigkeit der chilenischen Justiz verweist, um Schuldige zu finden, wo er doch selbst deren Namen kennt und verschweigt. Und es ist nur noch zynisch, wenn ein Staatsoberhaupt die Familien der Ermordeten um „Vergebung“ für Staatsverbrechen bittet und gleichzeitig die Mörder deckt.
Natürlich hat Präsident Aylwin trotzdem recht, wenn er von seinen Landsleuten verlangt, aus der Erfahrung der Diktatur zu lernen, „damit niemals wieder etwas Ähnliches passiert“. Doch in Chile sitzen immer noch politische Gefangene in Haft. Die Pinochet-Folterer sind noch im Amt. Und der Ex-Diktator ist als Oberbefehlshaber des Heeres immer noch jederzeit in der Lage, die Regierung politisch zu erpressen.
Indem Alywin das Weiterwirken der jüngsten chilenischen Vergangenheit in die Gegenwart des Landes herunterspielt und von Amts wegen Versöhnung beschwört, ignoriert er die Brüche eben dieser Geschichte. Die Militärdiktatur setzte sich zum Ziel, die Hoffnungen auszulöschen, die von der Allende-Regierung der vorhergegangenen drei Jahre geweckt worden waren — und Aylwin verleugnet nun diese Hoffnungen, im Glauben, damit das Trauma der siebzehnjährigen Diktatur leichter überwinden zu können. Für die gegensätzlichen Ideale, welche die Anhänger Allendes und Pinochets motivierten und in einen Machtkampf bis zum Ende trieben, ist in Aylwins Projekt der Versöhnung kein Platz. Durch die Veröffentlichung des Menschenrechtsberichts zementiert der chilenische Präsident eine Politik, die auf dem Vergessen dieser Ideale basiert.
Die 1.737 Seiten bedrucktes Papier dienen dem chilenischen Staat als weiße Weste. Auf ihnen wird Politik entschärft und zur Geschichtschronik entsorgt. Die 2.279 Opfernamen erfährt nun alle Welt. Doch wofür die Opfer starben — daran wird sich bald keiner mehr erinnern. Dominic Johnson
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