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Entlassene Akademiker*innenNach dem Hungerstreik

Nuriye Gülmen und Semih Özakça haben ihren Hungerstreik nach fast einem Jahr beendet. Sie kämpfen weiter gegen ihre Entlassungen

Nuriye Gülmen, Semih und Esra Özakça nach dem Hungerstreik Foto: privat

Durch ihren fast einjährigen Hungerstreik sind die Akademikerin Nuriye Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakça zu Symbolfiguren für Tausende von Menschen geworden, die in der Türkei per Notstandsdekret aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren. Am Morgen des 26. Januar erhielten viele Journalist*innen folgende Nachricht von Semih Özakça und seiner Ehefrau Esra: „Die Ausnahmezustandskommission hat uns ihre Entscheidung über die Rücknahme unserer Entlassungen zugestellt. Wir werden gemeinsam mit unseren Anwält*innen und Ärzt*innen zu dem Thema Stellung nehmen. Alle Medienschaffenden und Freund*innen sind eingeladen. Ort: Bei Esra und Semih Özakça, Zeit: 13 Uhr.“

Bei ihrer Verhaftung am 23. Mai 2017 befanden sich die Hochschuldozentin Nuriye Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakça bereits seit 75 Tagen im Hungerstreik. Özakça wurde am 20. Oktober aus der Untersuchungshaft entlassen, Gülmen kam am 2. Dezember frei. Die ersten Bilder der beiden schockierten die Öffentlichkeit. Sie waren nur noch Haut und Knochen und schienen schon mit einem Bein im Grab zu stehen.

Und natürlich schütteten regierungsnahe Accounts in den sozialen Medien kübelweise Häme aus: Sie hätten im Gefängnis doch wohl ziemlich zugenommen, hieß es. Und auch staatlicherseits gestreute, manipulative Informationen über die beiden fehlten nicht. Esra Özakça und der 72-jährige Mehmet Güvel hatten aus Solidarität einen unterstützenden Hungerstreik begonnen. Auch bei ihnen zehrte er zunehmend an der Gesundheit.

Erst als die Regierung verstanden hatte, dass weder psychische noch körperliche Repressionen die beiden Lehrer*innen von ihrem Hungerstreik abbringen würden, ließ sie verkünden: Man habe ordnungshalber die Entscheidung der von der Regierung eingerichteten Untersuchungskommission zum Ausnahmezustand über die Rechtmäßigkeit der Entlassungen abzuwarten. Und diese Kommission ließ sich, unzähligen Beschwerden und Unterschriftenkampagnen der Betroffenen und der Opposition zum Trotz, gerne mal Zeit mit ihren Untersuchungen. Bis die gesundheitlichen Grenzen des Hungerstreiks erreicht waren.

Klage statt Hungerstreik

Die letztendliche Entscheidung ist erwartungsgemäß enttäuschend: Nach 324 Tagen Hungerstreik wies die Kommission die Forderung der Hochschuldozentin und des Grundschullehrers, ihre Stellen wiederzubekommen, zurück. Wenn die beiden beschlossen hätten, ihren Hungerstreik bis zu einer gerichtlichen Revision der Verwaltungsentscheidung weiterzuführen, wäre das nichts anderes als Suizid gewesen.

Vor die aufgebauten Kameras treten Gülmen, die beiden Özakças, Güvel und zwei Unterstützer, die zwar nicht im Hungerstreik waren, aber wegen ihrer Unterstützung unzählige Male festgenommen worden sind: Acun Karadağ und Veli Saçılık. Viele Menschen in der Türkei werden gebannt gewartet haben, als die Kommissionsentscheidung über das Schicksal von zwei Menschen verkündet wird, deren Gesichter ein ganzes Jahr lang durch die sozialen Medien geisterten.

Nuriye Gülmen beruft sich mit schwacher Stimme auf Jean-Paul Sartre: Freiheit, so trägt sie vor, liege in der Haltung, mit der ein Mensch dem entgegentritt, was ihm angetan wird. Der Hungerstreik werde beendet, die Kommissionsentscheidung gerichtlich angefochten.

Seit Verhängung des Ausnahmezustands im Juli 2016 sorgten Notstandsdekrete dafür, dass 116.250 öffentliche Bedienstete ihre Stellen verloren und ein lebenslanges Berufsverbot bekamen. Doch obwohl der Putschversuch von Anhängern der religiösen Gemeinschaft beziehungsweise politischen Organisation des Predigers Fethullah Gülen ausgeführt wurde, waren Tausende von Linken und säkularistischen Demokrat*innen von den Berufsverboten betroffen. Bisher wurden die Dekrete nur für 1,69 Prozent der Betroffenen von der Kommission revidiert. Zum Jahresende waren noch 114.279 Menschen von den Berufsverboten betroffen.

Stimme des Widerstands

Allerdings wehrten sich nicht mehr als höchstens 30 Menschen öffentlich sichtbar gegen diese Maßnahmen – entweder mit Hungerstreik oder durch Protestaktionen auf der Straße. Das sagt viel über die mangelnde Organisierung der Betroffenen aus. So wurden Gülmen und Özakça mit ihrem Widerstand zur Stimme von Tausenden, die selbst ihre Arbeit verloren hatten.

Der Soziologe Veli Saçılık war von Anfang an dafür, dass der Hungerstreik beendet wird. Und von Anfang an unterstützte er die Hungerstreikenden mit seinen eigenen Aktionen. „Nuriye und Semih haben der Welt gezeigt, was die AKP mit ihren Massenentlassungen vorhatte und wen sie trafen“, sagt er. „Sie haben die Gesellschaft wachgerüttelt und in Teilen auch auf die Beine gebracht. Mit dem ablehnenden Bescheid der Kommission ist auch der Charakter dieser Einrichtung deutlich geworden. Gleichzeitig steht den beiden jetzt der Klageweg offen. Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, dass Nuriye und Semih am Leben bleiben. Dass sie überlebt haben, ist unser Sieg.“

Am 9. November 2016 war Nuriye Gülmen allein in die zentrale Ankaraner Fußgängerzone Yüksel Caddesi gezogen, um mit Plakaten zu fordern, dass man ihr ihre Stelle wiedergebe. Jeden Tag kam sie dorthin, bis sich ihr viele der Dekretsgeschädigten anschlossen. Sie und Semih Özakça kamen ins Gefängnis, nach ihrer Freilassung waren sie viel zu schwach, um noch auf der Straße zu sitzen. Doch dort geht der Widerstand weiter. Jeden Tag versuchen Menschen sich am Menschenrechtsdenkmal zu versammeln, das in der Mitte der Fußgängerzone in Ankara steht und mittlerweile von Polizeibarrikaden abgeschirmt wird.

Veli Saçılık könnte türkischer Rekordhalter im Festgenommenwerden sein, so oft hat er sich bei seinen Protesten schon abführen lassen. Nachdem Gülmen und Özakça ihren Hungerstreik abgebrochen haben, musste auch er eine Entscheidung für sich treffen. „Einige der Betroffenen wollen weiterhin jeden Tag zwischen 13:30 und 18 Uhr auf der Yüksel Caddesi sein. Ich werde mich an ihren Protesten beteiligen, aber nicht mehr so häufig wie früher. Ich will mich ein bisschen außerhalb dieser Routine bewegen und mit anderen Mitteln für eine Rücknahme des Berufsverbots kämpfen. Ich möchte ab und an mit wohlüberlegten Protestaktionen an die Öffentlichkeit treten“, sagt er.

Fast ein Jahr ohne Nahrung

Gibt es in seinen Augen überhaupt eine Chance, dass ein Gericht die Kommissionsentscheide für unrechtmäßig erklärt? „Mit der Festnahme des Vorstands der Ärztekammer aufgrund ihrer Stellungnahme gegen den Krieg in Afrin haben wir einmal mehr vor Augen geführt bekommen, dass in der Türkei das Recht ausgesetzt worden ist. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass eine Verwaltungsklage gegen den Kommissionsentscheid nicht rechtmäßig behandelt wird“, räumt Saçılık ein. „Aber mit unserem Kampf zeigen wir, dass auch für die AKP nicht alles so läuft, wie sie sich es vorstellen. Gewinnen werden wir nicht auf Grundlage der Vorstellung von Recht, die die Regierung durchsetzen will, sondern auf Grundlage der Vorstellung von Recht, die die Gesellschaft durchsetzen will.“

Der menschliche Verstand kann sich kaum vorstellen, was es bedeutet, so lange keine Nahrung aufzunehmen wie Gülmen, die beiden Özakças und Güvel. Derzeit sind alle vier im Krankenhaus. Onur Karahanlı ist einer der behandelnden Ärzte. Derzeit sei eine sechswöchige stationäre Behandlung vorgesehen, sagt er. Je nachdem, wie die vier Patient*innen auf die Behandlung reagieren, könne sie individuell länger oder kürzer ausfallen. Gülmen hatte erzählt, dass sie sich während ihres Hungerstreiks am meisten auf Eier mit Zwiebeln und Petersilie gefreut habe, eine Speise, von der auch Özakça geträumt habe. Dr. Karahanlı weist daraufhin, dass die Hungerstreikenden am 30. Januar zum ersten Mal seit 324 Tagen Nahrung oral aufgenommen hätten. „Daher ist es noch zu früh, um ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Aber sie sind beide sehr resilient und guter Dinge. Lassen Sie uns also alle gemeinsam hoffen, dass die Behandlung gut verläuft und sie sich bald all ihre Träume erfüllen können. Wünschen wir ihnen das Beste.“

Die Repressionen, mit denen die Türkei seit dem Putschversuch vom Juli 2016 überzogen wird, suchen ihresgleichen. Indem ein paar ganz gewöhnliche Menschen einen sehr ungewöhnlichen Widerstand versuchten, haben sie für alle Geschädigten eine Tür aufgestoßen, durch die wir ihnen nur das Beste wünschen können. Und auf einer anderen Ebene kämpfen Gülmen und Özakça auch jetzt noch.

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

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