piwik no script img

Entkoppelt von der Wirklichkeit

■ Zu den Erklärungen der RAF-Gefangenen zum Abbruch des Hungerstreiks

KOMMENTARE

Die Wortmeldungen aus den Knästen sind lebendiger Ausdruck der toten Trakte. Sie sind es um so mehr, je länger die AutorInnen hinter Gittern sitzen, je länger sie politische und gesellschaftliche Entwicklungen nur noch von drinnen richtiger müßte es heißen: von außen - verfolgen. Die (selektive) Wahrnehmung der Medien, die wenigen Besuche ihrer Anhänger, Angehörigen und Anwälte scheinen eher geeignet, die politische Weiterentwicklung in den Köpfen der Gefangenen zu blockieren als sie zu befördern. Hinter den Mauern haben die Parolen der siebziger Jahre überlebt. Sie entspringen heute mehr noch als damals reinen Wunschvorstellungen statt politischer Analyse.

Karl-Heinz Dellwo ist es unbenommen, eine „revolutionäre Entwicklung“ in der Bundesrepublik und weltweit zu wollen. Wo er glaubt, die Einsicht in die Notwendigkeit in „eine grundsätzliche Umkehrung von allem“, die in der Tat - etwa bei ökologischen Fragestellungen - auch außerhalb des „revolutionären Kerns“ existiert, führe direkt in eine revolutionäre Entwicklung, ist seine Vorstellungswelt auf fast bemitleidenswerte Weise von der Wirklichkeit entkoppelt. Außerhalb der Knäste ist es längst eine Binsenweisheit: Das klassische revolutionäre Projekt in der Bundesrepublik, in Europa, vielleicht auf der gesamten nördlichen Hemisphäre ist auf sehr lange Sicht, wenn nicht für immer gestorben. Längst hat sich im fortschrittlichen Lager die Waagschale zugunsten des reformerischen Ansatzes gesenkt.

Wer in einer Zeit, in der in der Bundesrepublik der Kern der gar nicht mehr so neuen sozialen Bewegungen in den Parlamenten und zunehmend auch in der Exekutive integriert oder doch vertreten ist, in der der Sozialismus in seiner „real existierenden“ Ausprägung in Osteuropa und China seinen größten Einbruch seit Lenin erlebt, in der auch die Bedrohung durch einen alles vernichtenden Krieg vor allem im Bewußtsein der Menschen, aber auch in der Realität tendenziell abnimmt, wer in einer solchen Zeit glaubt, mit Revolutionsparolen mobilisieren zu können, ist im eigentlichen Sinne unpolitisch.

Dellwo hofft, daß die knallharte, nach realpolitischen Maßstäben nicht nachvollziehbare Haltung der Bundesregierung und der unionsregierten Länder gegenüber den Gefangenen draußen als Menetekel verstanden wird. Das alte Lied vom faschistischen Staat, der sein wahres Gesicht zeigt, feiert in seiner Argumentation fröhliche Urständ. Aber der Verlauf des Hungerstreiks wird von der großen Mehrheit der Unterstützer eben gerade nicht als Nachweis für die These verstanden, daß in der Bundesrepublik „in allen grundsätzlichen Fragen nicht politisch, sondern militärisch reagiert“ wird. Im Gegenteil: Die irrationale Haltung des Staates gegenüber den Gefangenen wird als Relikt einer vergangenen Zeit verstanden, deren Reste es zu überwinden gilt. Die Unterstützung des Hungerstreiks speiste sich aus dem Wunsch, die überholte und überhöhte Konfrontation zwischen RAF und Staat endlich und in einer für die Gefangenen erträglichen Weise zu beenden - sozusagen historischen Ballast abzuwerfen, um Platz zu schaffen für erfolgversprechendere Wege der Gesellschaftsveränderung.

Der Anspruch an die Gefangenen, Realitäten außerhalb der Mauern anzuerkennen, die manche von ihnen nur vom Hörensagen kennen, ist hoch. Vielleicht ist er zu hoch, ohne eine Perspektive auf ein Leben nach dem Knast.

Gerd Rosenkranz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen