: Enteignet wird nach der Wahl
Stuttgart 21 soll Angela Merkels Wahlkampf nicht stören. Bahnchef Rüdiger Grube will den ursprünglich für diese Woche geplanten Abriss eines teilweise noch bewohnten Mehrfamilienhauses in der Nähe des Hauptbahnhofs auf die Zeit nach der Wahl verschieben
von Hermann G. Abmayr
Eigentlich sollten in der Stuttgarter Sängerstraße in der Woche nach Pfingsten die Bagger anrollen, um ein stattliches Gebäude abzureißen, das dem Bau des Tunneleingangs für Stuttgart 21 im Weg steht, der den künftigen Tiefbahnhof mit den Gleisröhren verbinden soll. Doch die Bautrupps müssen warten, denn das Regierungspräsidium Stuttgart hat bisher kein grünes Licht gegeben. Eine Sprecherin bestätigte gegenüber Kontext, dass das Enteignungsverfahren noch läuft. Damit müssen die beiden letzten Bewohner des Hauses nicht ausziehen. Die anderen acht Mitbesitzer, so der Wohnungseigentümer Werner Frank (Name geändert), haben ihren Anteil an Haus und Grundstück bereits der Bahn verkauft.
Im Berliner DB-Hochhaus will man vor der Bundestagswahl keinen Ärger wegen Stuttgart 21. Schließlich hat das umstrittene Milliardenprojekt Angela Merkel und ihrer CDU schon mehrere Wahlen vermasselt, obwohl die Bahn Horrormeldungen wie die Kostenexplosionen oder umstrittene Baumaßnahmen immer erst nach den jeweiligen Wahlen bekannt gegeben beziehungsweise durchgeführt hat. Zuletzt bei der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart, als Grube und Kefer längst wussten, dass die Kosten von Stuttgart 21 von 4,5 Milliarden auf 6,8 Milliarden Euro ansteigen. Genutzt hat es nichts. Bahn-Liebling Sebastian Turner, der Kandidat von CDU, FDP und Freien Wählern, hat die Wahl trotzdem verloren.
Beim Enteignen nicht zimperlich
Das Enteignungsverfahren soll dennoch fortgesetzt werden. Dabei ist man im Land der „Häuslebauer“ nicht zimperlich. Zumindest wenn es der Wirtschaft oder einem anderen „höheren Zweck“ dient. So hat der Landtag mit den Stimmen von CDU, FDP und drei Sozialdemokraten 1998 extra ein Messegesetz verabschiedet, um die Enteignung der Bauern zu ermöglichen, deren Felder dem Milliardenprojekt südlich von Stuttgart im Wege standen. „Enteignet werden kann nach dem Grundgesetz nur zum öffentlichen Wohl“, hatte Winfried Kretschmann 2004 aufgebrachte Landwirte unterstützt, die vor dem Regierungspräsidium gegen das Enteignungsverfahren protestierten. „Ihr Eigentum soll für eine Messe enteignet werden, die keiner auf den Fildern will und nur der Wirtschaft nützt und nicht dem öffentlichen Wohl“, sagte der damalige Oppositionsführer der Grünen im Landtag.
Genützt hatte der Protest der Bürger damals nichts. CDU und FDP hatten das Messegesetz auf ihrer Seite. Die beiden Parteien hatten damit die Lehren aus einer gerichtlichen Niederlage in den Achtzigerjahren gezogen. Damals konnten Bauern den Bau einer Teststrecke des Daimler-Konzerns in Boxberg im Norden Baden-Württembergs auf dem Rechtsweg verhindern.
Heute ist Kretschmanns Regierung auch für die Regierungspräsidien verantwortlich, die Enteignungsverfahren durchführen. Wie jetzt gegen Werner Frank aus der Stuttgarter Sängerstraße. Der Eigentümer der letzten bewohnten Wohnung in dem Gebäude ist zwei Jahre älter als Kretschmann und wie der heutige MP seit vielen Jahren S-21-Gegner. Beide waren jahrzehntelang als Lehrer tätig. Frank (67) ist mittlerweile im Ruhestand.
Werner Franks Anwalt Bernhard Ludwig hält die Enteignung seiner Wohnung sogar für verfassungswidrig, denn sie diene nicht dem Gemeinwohl. Einen Verfassungsbruch sieht Ludwig auch in der Finanzierung von S 21; zudem fehle nach wie vor eine Gesamtgenehmigung, sodass das Tunnelprojekt nach aktuellem Stand nicht zu Ende gebaut werden könne.
Dies sehen auch Rechtswissenschaftler wie Hans Meyer, Joachim Wieland, Helmuth Goerlich und Oliver Lepsius so. Grund: Bahnprojekte sind nach dem Grundgesetz ausschließlich eine Angelegenheit des Bundes. Und kein Land darf sich Investitionen der Bahn durch eigene Zuzahlung quasi erkaufen, da Mischfinanzierungen von Bund und Land generell unzulässig sind. Gegen dieses Gebot hatten Ex-Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) und Stuttgarts Ex-Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) verstoßen, indem sie für den Bau von S 21 und der Neubaustrecke nach Ulm milliardenschwere Zuzahlungen garantierten.
Der damalige Oppositionsführer Winfried Kretschmann versprach deshalb 2010, er werde als Ministerpräsident alle S-21-Zahlungen stoppen. Doch dieses Versprechen fiel schon wenige Monate später bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD unter den Tisch. Und mangels Kläger hat bisher kein Gericht den Verfassungsbruch gestoppt. Klagen könnte beispielsweise jede Landesregierung, die sich benachteiligt fühlt. Doch die CDU- und SPD-dominierten Regierungen wollen nicht, weil beide Parteien S 21 befürworten. Auch Bundestagsabgeordnete könnten eine Organklage einreichen – mit einem Drittel der Stimmen. Die der Linken, der Grünen und weiterer elf Abgeordneter würden ausreichen. Doch weder bei der SPD noch bei Union und FDP gibt es Dissidenten.
Verfassungsgericht drückt sich
Bernhard Ludwig hatte gehofft, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit der Enteignung des Hauses Sängerstraße befassen wird und damit gezwungen wäre, auch zur Verfassungsmäßigkeit der Mischfinanzierung Stellung zu nehmen. Aber die Richter in Karlsruhe haben den Fall erst gar nicht zur Entscheidung angenommen. Der VGH hatte in der Abweisung des Eilantrags zwar anerkannt, dass die Analyse Engelhardts ein neues Beweismittel darstellt, gleichzeitig aber erklärt, dies sei nicht entscheidungserheblich. Christoph Engelhardt kann dies nicht nachvollziehen: „Es ist, als würde in einem Mordfall behauptet, die DNA-Spur eines bis dahin nur vage Verdächtigen ist zwar ein neues Beweismittel, liefert aber keine neue Sachlage“, empört sich der Wissenschaftler.
Grube und Kefer wissen jedenfalls, was sie ihrer Kanzlerin schuldig sind. Ohne ihren Segen wären ihre lukrativen Verträge 2012 nicht verlängert worden. Klar, dass Angela Merkel bei der Bundestagswahl nicht erneut wegen des Stuttgarter Milliardenprojekts Stimmen verlieren will. Eine willkürliche Enteignung und ein Abriss eines Mehrfamilienhauses könnten Schlagzeilen produzieren, die das S- 21-Debakel der Kanzlerin wieder bundesweit ins Bewusstsein rücken. Deshalb kann es ihr nur recht sein, wenn die Bagger erst am 23. September anrücken, am Montag nach der Wahl.
Doch noch steht das Gebäude Sängerstraße im Stadtzentrum von Stuttgart. Die Enteignung sei mit dem Planfeststellungsbeschluss aus dem Jahr 2005 lediglich „dem Grunde nach“ genehmigt, erklärte ein Sprecher des Eisenbahnbundesamts (EBA) auf Anfrage. Um sie durchzusetzen, sei ein Verfahren nach dem Landesenteignungsgesetz erforderlich, das auch die Frage der Entschädigung zu klären habe. Entscheiden müsse dann das zuständige Regierungspräsidium. Doch der Stuttgarter Behörde liegt nach Informationen von Kontext kein entsprechender Antrag vor.
Ein Sprecher des S-21-Kommunikationsbüros wollte zwar – wie Rechtsanwalt Bernhard Ludwig – zu dem laufenden Verfahren keine Angaben machen; er bestätigte allerdings, dass es im Falle Sängerstraße um eine „vorzeitige Besitzeinweisung“ gehe, also eine vorzeitige Enteignung. Dies wäre allerdings erst dann möglich, wenn der Betroffene sich quer stellte und wenn die Bahn nachweisen könnte, dass der sofortige Beginn des Abrisses des Mehrfamilienhauses für den Baufortschritt erforderlich ist.
Dies können die Leute von Bahnchef Rüdiger Grube und Volker Kefer aber nicht. Denn die Bahn darf immer noch keine Baugrube für das Megaprojekt ausheben, weil für das Abpumpen und Umleiten großer Mengen an Grundwasser während der Bauphase noch keine Genehmigung vorliegt und weil noch etliche weitere Planänderungsverfahren in dem Bereich offen sind. Ein Abriss des Hauses und die Enteignung Werner Franks wäre also aktuell nicht erforderlich. Die Behörde von Regierungspräsident Johannes Schmalzl (FDP) könnte die Bahn deshalb auf das Hauptsacheverfahren verweisen, also das eigentliche Enteignungsverfahren.