Ende eines Genies

Friedrich Nietzsche: Ärzte widersprechen der hartnäckigen These, der große Philosoph sei an Syphilis gestorben

„Es fehlte beispielsweise das für die Erkrankung typische Zittern der Zunge“

Seine letzten Briefe unterschrieb er mit „Dionysos“ oder „der Gekreuzigte“, und das Bild, wie der Mann mit dem Riesenschnurrbart aus seinem Bett ins Leere stierte, ging um die Welt. Friedrich Nietzsche wurde nicht nur durch seine Philosophie bekannt, sondern auch durch seine letzten Lebensjahre, die er in dumpfer Demenz verbrachte. Denn es ist schon pikant, wenn ausgerechnet der Erfinder des „Übermenschen“ als Schwachsinniger endet.

Mindestens ebenso pikant ist aber auch die Krankheit, die bislang hartnäckig als Erklärung für die Demenz des Philosophen gehandelt wird. Nämlich eine Syphilis, die Nietzsche in den letzten Lebensjahren regelrecht das Hirn aufgefressen haben soll. Eine Theorie, die so populär wurde, dass sich ganze Heerscharen von Biografen auf die Suche machten, wo sich denn der eigentlich so jungfräuliche Gelehrte die Geschlechtserkrankung geholt haben könnte – und dabei wurden auch Bordellbesuche nicht ausgeschlossen. Doch das Suchen war wohl vergeblich. Denn immer mehr Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass der Philosoph an einer ganz anderen Krankheit litt.

Einer von ihnen ist der Mediziner Leonard Sax vom Montgomery Center im amerikanischen Maryland. Er hat herausgefunden, dass schon die Ärzte, die dereinst Nietzsche untersucht hatten, an der ursprünglich geäußerten Syphilis-Diagnose zweifelten. „Es fehlte beispielsweise das für die Erkrankung typische Zittern der Zunge“, so Sax. Auch zeigte der Patient zunächst keine Hinweise auf eine schleppende Sprache oder ein ausdrucksloses Gesicht. Dafür notierten die Ärzte unterschiedliche Pupillengrößen, doch auch die taugen nicht zur Diagnose einer Syphilis, so Sax, „denn Nietzsche hatte schon als Kleinkind unterschiedlich große Pupillen“.

Zu denken gibt weiterhin, dass Nietzsche nach seinem geistigen Zusammenbruch im Jahre 1889 noch elf Jahre lang lebte – weitaus länger, als es früher, in „vor-antibiotischen“ Zeiten, für einen Syphilis-Patienten möglich gewesen wäre. Denn der starb damals in der Regel schon fünf Jahre nach Ausbruch der Symptome.

Viele Indizien sprechen also gegen die Syphilis-These. Weswegen Sax denn auch vermutet, dass Nietzsches Demenz eher durch einen Hirntumor in der Nähe des rechten Sehnervs ausgelöst wurde. Hierfür sprechen die rechtsseitigen Kopfschmerzen, unter denen der Denker zeit seines Lebens zu leiden hatte. Und zu den Sehstörungen: Nietzsche war schon lange vor seinem geistigen Zusammenbruch auf dem rechten Auge blind. Seine Ärzte konnten weder angeborene Augenschäden noch einen Infekt dafür ausmachen – und an einen Hirntumor dachte man damals noch nicht.

Bleibt die Frage, wie sich die Syphilis-These, obwohl keineswegs bewiesen, so hartnäckig halten konnte. Sax macht dafür einerseits die Kritiker des Philosophen verantwortlich, die ihn mit seinen verwegenen Thesen vom „Untergang der Moral“ und „Gott ist tot“ nur liebend gerne in die Ecke eines Geisteskranken stellten. Andererseits trug auch Nietzsches Schwester Elisabeth, die ihren Bruder in den letzten Jahren pflegte, zur Syphilis-Legende bei. Sie verbot nämlich dessen Autopsie, weil so eine Leichenschau nicht zum Bild des Heiligen passte, das die geschäftstüchtige Schwester für ihren Bruder vorgesehen hatte. Nietzsche wurde ohne einen abschließenden Blick des Pathologen bestattet – und damit wurde auch die größte Chance begraben, letztendliche Klarheit über seinen tragischen Abgang zu schaffen. JÖRG ZITTLAU