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Archiv-Artikel

Ende der Duldung

AUS BEMPFLINGEN MARCO LAUER

Vier Uhr morgens. Eine gute Zeit. Die Überraschung ist dann groß und es bleibt noch genug Spielraum für zeitaufwändige Arbeiten. Erkennungsdienstliche Maßnahmen zum Beispiel. Nicht, dass man noch die Falschen ins Flugzeug setzt. Alles in allem ein Routinevorgang, so eine Abschiebung.

Nicht für Indira und Elmedin B. Es ist die Nacht auf den 29. November 2005, als die 20-Jährige und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder nach Belgrad abgeschoben werden. Die beiden schlafen, als von draußen Lärm in ihr Zimmer dringt. Blaulicht erhellt die Straße. Am Ende einer Sackgasse im schwäbischen Bempflingen stehen vier Polizeifahrzeuge halbseitig auf dem Gehweg. Es klingelt, die Mutter öffnet schlaftrunken die Tür. Sieben Polizisten dringen ein, durchsuchen die Zimmer der Familie B., während weitere Beamte das Gelände vor dem Haus „sichern“. Eine halbe Stunde später werden Indira und Elmedin abgeführt. In Handschellen. Fluchtgefahr.

Eine halbe Stunde bleibt ihnen für den Übergang ins Ungewisse, für den Abschied von Eltern und den fünf Geschwistern. Für alle wird es wohl die letzte Umarmung auf deutschem Boden gewesen sein. Eine Abschiebung hat in der Rechtsprechung der Bundesrepublik sehr endgültigen Charakter.

Vor zwölf Jahren kamen die B.s nach Deutschland. Geflohen aus dem Kosovo, als der Bürgerkrieg seine blutigen Fühler auch in den äußersten Südwesten des ehemaligen Jugoslawien ausgestreckt hatte. Indira war acht damals, Elmedin sechs Jahre alt.

Die Abschiebung ist gerade einige Tage her. Zu Hause, beim Rest der Familie B., die in einem der containerähnlichen Häuser wohnt, die hundertfach über viele Gemeinden in Baden-Württemberg verteilt liegen. Jeweils zwei bis drei pro Ort – „um Ghettoisierungen zu verhindern“, wie die Bezirksstelle für Asyl erklärt. In Bempflingen sind es zwei Häuser. Das andere steht schon leer. Nezir B., der Vater von Indira und Elmedin, sitzt auf dem Sofa. Ein massiger Mann von 43 Jahren mit dichtem schwarzem Haar, dunklem Teint und kleinen Augen. Er ist unrasiert. Seit der Abschiebungsnacht. Nicht nur sein Gesicht, alles hier scheint seit Tagen nicht berührt worden zu sein. Kleidung liegt über den Linoleumfußboden verstreut, schmutziges Geschirr steht auf dem flachen, gefliesten Tisch. Die einzige Ordnung bilden die selbst gedrehten Zigaretten, die hier in gerader Linie liegen.

Langes Schweigen. Dann sagt Nezir B.: „Ist wie Lähmung.“ Seine Frau Kadrije, 38, hat den vier Monate alten Sohn Almir auf dem Schoß. Sie gibt ihm die Brust und nickt zustimmend. „Seit vier Tagen keine Lust zu nix mehr“, sagt Nezir. Nichts läuft mehr bei den B.s. Außer dem Fernseher in der Ecke. Darin kommentiert gerade Volker Kauder die Regierungserklärung der neuen Kanzlerin: „Die Botschaft an die jungen Leute im Land: Bleibt hier, denn es lohnt wieder, sich hier zu engagieren.“

Indira und Elmedin gehörten nicht zu dieser Zielgruppe. Sie waren bei der Bezirksstelle für Asyl in Stuttgart, der für Bempflingen zuständigen Abschiebebehörde, unter dem Aktenzeichen 16K4172/05 eingetragen. Dieser Eintrag sagt nicht: Bleibt! Er sagt: Geht! Und er sagt es zu vielen in Deutschland. Eigentlich allen, die hier ohne ein dauerhaftes Bleiberecht oder ein gewährtes Asyl leben. Denen, die nur geduldet sind.

Was Duldung heißt, lässt sich zunächst mit dem Aufdruck auf Elmedin B.s Ausweis erklären, den die Bezirksstelle für Asyl ihm ausgestellt hat. Die Mutter holt ihn aus dem Schrank und zeigt ihn dem Besucher. Da steht schwarz auf grauer Pappe: „Aussetzung der Abschiebung (Duldung).“ Und: „Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!“ Mit Ausrufungszeichen.

Wer diesen Ausweis besitzt, ist zwar legal in Deutschland, aber nicht gewollt. Mehr als 300.000 Menschen leben hierzulande nach Schätzungen von Flüchtlingsorganisationen in diesem rechtlichen und menschlichen Schwebezustand. Über die Hälfte von ihnen schon zehn Jahre oder länger. Ein Leben im Drei-Monats-Rhythmus. So lange ist eine Duldung maximal gültig. Maximal. Denn dies heißt nicht, dass automatisch ein weiteres Vierteljahr Deutschland garantiert ist. Mit der Ausweisung muss immer gerechnet werden, jeden Tag. „Ein riesiger, unzumutbarer Druck, der auf diesen Menschen lastet“, sagt Ulrike Duchrow vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, der sich seit langem gegen diese so genannten Kettenduldungen wendet.

Dafür, dass für die Geduldeten nach mehr als einem Jahrzehnt in Deutschland die Angst vor der Abschiebung ein Ende findet und Sicherheit ihren Anfang, sollte eigentlich ein Passus im neuen Zuwanderungsgesetz sorgen. Der, überschrieben mit Paragraf 25, Absatz fünf, Aufenthaltsgesetz, könnte Sicherheit bringen – theoretisch. Dort heißt es, der Staat solle die subjektive Situation der Flüchtlinge stärker bewerten als die objektive. Soll, nicht muss.

Meist tut er das nicht. „Gerade in Baden-Württemberg werden Abschiebungen sehr restriktiv gehandhabt“, sagt Harald Baiker, Rechtsanwalt im schwäbischen Fellbach, der auch die B.s vertritt. Restriktiv heißt: Objektivität siegt. Das oft einzige Kriterium für die Ausweisung sei, ob das „Zielland“ die Leute zurücknimmt oder nicht. Wenn Serbien also den Daumen hebt, wird das nächste Aktenzeichen zur Abschiebung aus Deutschland freigegeben. „Außer der Asylant nützt dem Land etwas, kostet also nichts“, sagt Baiker. „Da wird schon unterschieden zwischen gutem Ausländer und schlechtem. Nicht offiziell natürlich.“ Geduldete gehören meist zur Kategorie der schlechten. Baiker sagt auch: „Die vollzogene Abschiebung von Indira und Elmedin B. ist endgültig. Rückkehr ist da praktisch nicht mehr möglich.“

Die Familie B. kam 1993 im zentralen Aufnahmelager für Flüchtlinge in Karlsruhe an. Das liegt nur dreißig Kilometer nördlich von Söllingen, dessen Flughafen das Drehkreuz ist für Abschiebungen aus Baden-Württemberg. Anfangs waren sie zu fünft. Die Eltern mit ihren Kindern Indira, Elmedin und Edib, damals drei Jahre alt. Nach der Ankunft stellten sie einen Asylantrag. Abgelehnt. Keine Begründung. Seither nur noch geduldet.

Früher war Nezir B., der Vater, Kranführer auf Baustellen überall in Jugoslawien. Dann kam der Krieg, das Land zerfiel in seine Einzelteile. Es wurde nicht mehr gebaut, nur noch zerstört. In Deutschland suchte er wieder Arbeit, fand aber nur „Beschäftigung“: einige Wochen Straßen reinigen, Hecken schneiden. Mehr gab es nie für ihn. „Ich hätte alles gemacht, Müllabfuhr, Kloputzer“, sagt Nezir B. Doch kein Unternehmer geht das Risiko ein, jemanden einzustellen, der jeden Tag abgeschoben werden kann, der vielleicht morgen nicht mehr zur Arbeit erscheint.

Elmedin, seinem ausgewiesenen Sohn, erging es ähnlich. Er wollte nach der Hauptschule Elektriker werden. Ganze zwei Jahre lang bewarb er sich, erfolglos. Der Druck wuchs, denn Arbeit ist der Trumpf, der manchmal die Abschiebung aussticht. Schlechte Karten für Elmedin. Er verlor das Spiel: als Geduldeter keine Arbeit, ohne Arbeit keine Chance, je das Bleiberecht zu erhalten.

Indira, die Schwester, ein Energiebündel mit lauter Stimme, langen schwarzen Haaren und dunklen Augen, verließ die Hauptschule mit guten Noten. Krankenschwester wollte sie danach werden, doch auch sie fand keinen Ausbildungsplatz. Stattdessen arbeitete sie als Küchenhilfe in einem italienischen Restaurant. Aber sie wollte mehr erreichen, als Salat zu putzen und den Küchenboden. Abschiebung kam in ihrer Vorstellung nicht mehr vor – nach zwölf Jahren, die sie mit ihrer Familie nun schon in Deutschland lebte. Als sie mit der Realschule begann, war sie knapp neunzehn. Nebenher arbeitete sie weiter in der Küche, ging immer samstags in die Disco, um abzutanzen, Freunde zu treffen. Ihre letzte Klausur vor der Abschiebung war ein Aufsatz im Fach Deutsch. Sie bekam ihn zurück mit einer „Zwei bis Drei“.

Ein weiterer Besuch bei den B.s. Zwei Wochen sind vergangen seit der Abschiebung. Die Eltern sind da, die älteren Kinder in der Schule. Es gibt jugoslawischen Kaffee, schwarz und stark, am Boden geht der Löffel durch Kaffeeschlamm. „Schmeckt dir?“, fragt Kadrije, die Mutter. Ihr dunkelbraunes Haar, durchzogen von grauen Strähnen, fällt ihr auf die Schultern. Sie trägt einen bunten Rock und sitzt im Schneidersitz barfuß auf dem Sofa. Vater Nezir erzählt: „Jede zweite Tag können wir kurz telefonieren mit Kinder. Die beiden sind jetzt in Novi Sad bei Bekannte von früher.“ Novi Sad liegt 150 Kilometer nördlich von Belgrad, die Bekannten dort sind für Indira und Elmedin nur noch eine blasse Kindheitserinnerung.

Das Telefon klingelt. Indira. Vater und Tochter sprechen kurz miteinander. Nezir sagt nur „ja“. Kurze Pause. Dann wieder „ja“. Drei Minuten dauert das Gespräch. Aus der Muschel dringen spitze Töne und Schluchzen. Dann sagt er „tschüß“, leise. Noch einmal: „tschüß“. Er zitiert, was Indira ihm gesagt hat: „Wir haben nichts dort. Gar nichts. Kein Geld. Zwei Brötchen am Tag. Alle denken, wir haben Geld, weil wir aus Deutschland sind. Und in die Wohnung regnet es rein.“

Perspektiven gibt es in Serbien kaum für sie. Arbeit, Ausbildung, Geld, an allem mangelt es dort. Die einzige Aussicht: ihre Eltern bald wiederzusehen. Die nämlich sind samt den fünf Kindern auch der Ausweisung nahe. „Fallen die zwei letzten Abschiebehindernisse bei den B.s weg, müssen sie gehen“, sagt Rechtsanwalt Harald Baiker mit der Sachlichkeit langer Erfahrung. Die beiden „Hindernisse“ sind ihre Tochter Edita und der kleine Sohn Almir. Edita hat ein verkürztes Bein. Sie ist deswegen in Behandlung, und die wäre in Serbien so nicht gewährleistet. Noch ein paar Monate Geduld und Schmerzen, und Edita ist geheilt.

Für eine Abschiebung gilt außerdem: Eltern mit Kindern unter sechs Monaten können nicht ausgewiesen werden. Almir ist jetzt vier Monate alt. Auf seinem roten Strampelanzug steht: „Move. Forever move“.