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"Empörtenbeauftragter" Hessel in BerlinLeicht verstolpert, nicht flaniert

Stéphane Hessel sollte in Berlin über seinen Vater Franz Hessel und das Buch "Spazieren in Berlin" sprechen. Der trug aber lieber Gedichte von Hofmannsthal vor.

Das Haus, die Schule, die Straße, der Geruch, das Dienstmädchen - Erinnerung werden wach bei Hessels Besuch in Berlin. Bild: dpa

Stéphane Hessel gehört derzeit zu den gefragtesten Plauderern in Gesprächsrunden über unsere jüngste Geschichte. Seit seine Flugschrift "Empört euch!" für Furore sorgt, wird der 93-jährige Franzose als Star des Polittalks gehandelt. Mehr noch liegt die Faszination Stéphane Hessels aber wohl darin, dass er selbst ein Stück Weltgeschichte widerspiegelt und die Rolle des "Empörtenbeauftragten" in Wirklichkeit auf eine recht unprätentiöse Weise verkörpert.

Seine Sätze scheinen einem längst verschüttet geglaubten linken Humanismus zu entstammen. Was stimmt. Hessel überstand das KZ in Buchenwald, kämpfte in der Résistance gegen Hitler und schrieb mit an der UN-Menschenrechts-Charta. Picasso, Max Ernst und de Gaulle waren mit dem Diplomaten befreundet.

Wer solche Voraussetzungen mitbringt, von dem wird erwartet, dass er auch die Erinnerungen an seinen Vater, den jüdischen Berliner Schriftsteller und Großstadtflaneur Franz Hessel (1880 bis 1941), maximal bewältigt. Zur Neuherausgabe von Hessels 1929 erschienenem Buch "Spazieren in Berlin" hatte das Literaturhaus Berlin am Dienstag Stéphane Hessel in die Hochschule der Künste eingeladen, um mit ihm über den Alten, die 20er Jahre in Berlin und seine neueste Flugschrift zu reden. Zu Letzterem kam es gar nicht. Doch wie anderswo waren die Karten auch in Berlin ausverkauft, und wie andernorts auch rezitierte Hessel wieder Gedichte: Hugo von Hofmannsthal. Auswendig. Allein das war das Kommen wert.

"Im Arbeitszimmer roch es nach Tabak"

Als Stichwortgeber hatte man Hessel den Freund und Kritiker Peter von Becker zur Seite gestellt, womit die Probleme des Abends benannt sind. Da Helen Grund, Malerin und Franz Hessels Frau, sich bald nach der Heirat (1913) samt Kind nach Paris absetzte, blieben die Erinnerungen Stéphanes an seinen Vater überschaubar, die Konturen unscharf. "Im Arbeitszimmer roch es nach Tabak und er las uns Homer vor." Zudem attestierte der Sohn dem Papa "Gelassenheit, Weisheit und Erfolg bei den Frauen." Das "gute Gefühl für die deutsche Sprache und dass er im Exil ab 1938 gelitten hat", nicht zu vergessen.

Dann übernahm Becker die Regie, als wäre er damals dabei gewesen. "Hessel war ein Berlin-Kenner, leichtfüßig begab er sich auf die Spuren der Stadt." Becker machte es dem weltgewandten Franzosen leicht, plauderte der doch viel lieber über Hessels "Pariser Romanzen" (1920), die von Truffaut verfilmte Familiengeschichte in "Jules und Jim" (1962) sowie über seine Sorge über den Zustand der Welt. Das war höchst amüsant und spannend. Nur die Geschichte des Berliner Flaneurs Franz Hessel wurde dabei etwas verstolpert. Was schade war. Sind doch Hessel und seine Bücher nicht nur bedeutsam und wunderbar geschrieben, sondern auch weitgehend unbekannt geblieben.

Franz Hessels größte Reminiszenz an seine eigentliche Liebe, nämlich Berlin, ist das 1929 entstandene Buch. So beginnt es: "Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung." Durch einen Auftrag der Stadtverwaltung und die Pariser Großstadttexte Baudelaires angeregt, hatte sich Hessel quer durch das alte und neue Berlin der 20er Jahre aufgemacht.

Flaneure jener Tage

Heraus kamen keine räumlichen Beschreibungen, sondern eine Collage, Fragmente, Träume, witzige Berlinbilder über den modernen Seelenzustand der Hauptstadt in der Weimarer Zeit. Walter Benjamin und Joseph Roth, gleichfalls Flaneure jener Tage, feierten seine "tiefe Zwiesprache" mit der Stadt.

Hessel schilderte die Zeitungsredaktionen, die Modemädchen am Kurfürstendamm, Milieus und Nachtschwärmer kurz vor seinem Berufsverbot durch die Nazis als Lektor beim Rowohlt Verlag. Nur widerstrebend emigrierte er erst 1938, vor den Novemberpogromen, nach Paris. Nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich 1940 floh Hessel in die Provence, 1941, kurz nach seiner Entlassung aus dem Internierungslager Sanary-sur-Mer, starb er.

"Erinnern Sie sich?", wurde Stéphane Hessel von Becker mehrfach gefragt. "Ein wenig, jetzt wo ich hier bin, taucht wieder vieles auf." Das Haus, die Schule, die Straße, der Geruch, das Dienstmädchen. Schade, dass Becker nicht nachhakte. Denn als der Schauspieler Frank Arnold aus den "Spaziergängen" vortrug, lächelte der Alte und hatte manchmal Tränen in den Augen. Da war also doch mehr.

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