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Archiv-Artikel

Elternland ist abgebrannt

Von einem, der die Erinnerungen wieder aus dem Sperrmüll holt: Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld schreibt einen Entwicklungsroman und lässt den Helden nach Polen reisen

VON MARIE-LUISE KNOTT

Ein israelischer Kaufmann begegnet in einem südpolnischen Wirtshaus einer Gruppe Bauern. Da er sich deren pöbelnden Antisemitismus kaum erwehren kann, holt er in seiner Fantasie ein Geschwader der als unbesiegbar geltenden israelischen Luftwaffe zu Hilfe.

Der Schriftsteller Aharon Appelfeld, der diese Szene in seinem jüngsten Roman erfunden hat, lässt seinen Protagonisten, Jakob Fein, gegen den Ratschlag seiner Umgebung ins titelgebende „Elternland“ reisen, genauer: in das erfundene Dorf Schidowze südöstlich von Krakau. Hier angekommen, kann er sich gar nicht satt sehen und riechen am Grün der Wiesen und Felder und am silbrig schimmernden Fluss Schrinez, an dem einst, vor nicht einmal sechzig Jahren, seine Vorfahren saßen. Seine Mutter hatte ihm in seiner Kindheit vor dem Zubettgehen oftmals von ihrer Jugend im Dorf und vom Überleben im Versteck erzählt. Doch Fein, der ganz im Hier und Jetzt des modernen Israel zu Hause sein wollte, hatte lange Zeit die Geschichten verdrängt, beim Tode der Eltern ihre Erinnerungsstücke dem Sperrmüll überantwortet. Nun, Jahrzehnte später, erscheint ihm sein bisheriges Leben als „ein ununterbrochener Wettlauf von einer Straße in die andere“. Ohne Rast.

In Elternland angekommen, öffnet sich ihm das Herz, im Traum redet er mit seiner Mutter, die in seiner Erinnerung so schweigsam war. Auch in den Erzählungen von Magda, seiner Zimmerwirtin in Schidowze, die als Kind mit Jakobs Mutter bekannt war, wird die Mutter noch einmal lebendig.

„Ich bin der letzte jüdische Schriftsteller“, sagt Aharon Appelfeld, der 1932 im rumänischen Czernowitz geboren wurde und den Holocaust in den Wäldern überlebte, bevor er 1946 nach Palästina kam. Im Mittelpunkt all seiner Romane steht der Untergang der jüdischen Kultur, die einst in Europa so vielen Menschen Heimat war. Appelfeld erzählt nie expressis verbis vom Schrecklichen, doch es ist immer gegenwärtig, in Geschichten aufgehoben.

Jakob Fein könnte, wie alle Appelfeld’schen Figuren, aus einem modernen Märchen stammen oder aus einem Roman Kafkas. Er ist, nomen est omen, ein feiner Mensch, bis ins Lebensfremde menschenoffen; eindeutige Gründe für die Handlungen, Gefühle und Erwartungen gibt es nicht. Appelfelds Figuren werden nie ganz Individuen. Denn: Jede deutliche Konturierung der Figuren wäre immer auch eine Ausgrenzung. Diese Menschen, die mit betonter Enthaltsamkeit gezeichnet sind, sind nie ganz nur sie selbst und nie ganz von dieser Welt. Alle Romane Appelfelds verströmen eine solche entrückte Sanftheit, als ginge es darum, diese Welt, in der die „Fabrikation von Leichen“ (Arendt) möglich war, durch eine Überdosis an Stille, Freundlichkeit und Offenheit ins Gleichgewicht und zur Besinnung zu bringen.

Jakob Fein kann der israelischen Realität nicht entkommen, er wird von der Geschichte eingeholt. Elternland ist abgebrannt! Trotz der Liebe zu der alterslosen Magda, die ihm für die Dauer des Romans Dasein garantiert, muss er erfahren, dass es für Juden in Schidowze dauerhaft keine sicheren vier Wände gibt. Wanda, eine alte Dorfbewohnerin, halb Wahrsagerin, halb Hexe, erinnert sich noch, wie die Juden in Schidowze umgebracht wurden, wie man danach den Jüdische Friedhof dem Erdboden gleichgemachte und die Grabsteine zum Pflastern des Rathausplatzes verwandte. Als Jakob Fein dem Ratsvorsitzenden des Dorfes eine kleine Summe anbietet, um den Grabstein seines Großvaters, den er im Pflaster identifiziert hat, nach Israel mitzunehmen, bricht im Dorf der Damm.

„Nimm einen ruhigen, höflichen Menschen – sag ihm, dass ein Jude etwas bei ihm kaufen oder ihm etwas verkaufen will, und sofort erwacht in ihm das Raubtier“, hatte Wanda zu ihm gesagt – und so geschieht es. Die antisemitischen Stereotypien prasseln auf Fein nieder – zunehmend deutlicher und aggressiver. Die einen fürchten vielleicht, dass Jakob Fein die Erbschaft seiner ermordeten Familienangehörigen einfordern will; andere wollen womöglich vermeiden, dass die verdrängten Untaten wieder aufgerollt werden; wieder andere suchen den billigen Vorteil. Still und leise entwirft Appelfeld in „Elternland“ ein kleines Porträt der Gesellschaft, der Vielfalt menschlicher Gefühle und Verstrickungen. Doch nichts „muss“ so sein und so ablaufen, wie es im Roman geschieht.

Indem Appelfeld Logik und Urteil aus seinen Romanen verbannt, öffnen sich die bislang als unabänderlich angesehenen Konfrontationen, und es entsteht Freiheit – eine Freiheit, die weiß, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Taten. Jakob Fein, der einstige Offizier der israelischen Armee, fantasiert, wie seine Truppe zu seiner Rettung aufmarschiert; konfrontiert mit dem unverhohlenen Antisemitismus des Ratsvorsitzenden, sagt er sich: „Ich habe keine Angst, unsere Armee ist mittlerweile sogar in der Lage, auch einem einzelnen Juden zu Hilfe zu kommen. Ihr Arm reicht überallhin.“ Diese lakonisch dargebotene, biblisch anmutende Allmachtsfantasie bietet tatsächlich kein Heil. Nirgends, nicht im Roman, nicht im wirklichen Leben.

Appelfelds Parabel vom ewigen Antisemitismus ist auch ein Entwicklungsroman. Von einem, der auszog, das Leben neu zu lernen. Von einem, der die „gewohnten Straßen“ verlassen hat und in der Fremde zu sich selber findet. „Die Tage hier hatten ihn verändert“, heißt es kurz vor Schluss. „Wörter, die er von früher kannte und die verloschen in seiner Seele gelegen hatten, waren gleichsam aus ihrem Gefängnis befreit worden, ab jetzt würde er ein anderer sein.“ Um aufbrechen zu können, hat er sich als Wanderstab, oder besser: als Zauberstab, den Mythos von der unschlagbaren Armee eingepackt. Aus dem Märchen wissen wir: Erst wenn der Mensch den Zauber nicht mehr braucht, kann und wird er ganz Mensch sein.

Aharon Appelfeld: „Elternland“. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhäuser. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007, 263 Seiten, 17,90 Euro