Eltern schicken ihre Kinder Nur aufs Gymnasium, weil sie glauben, dass sie zu gut für die Stadtteilschule sind: In guter Gesellschaft
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
Mein Jonas geht aufs Gymnasium“, sagt eine Mutter im Bus zu ihrer Nachbarin. „Mir egal was die sagen.“ Ihre Nachbarin nickt. „Der Markus sollte ja auch nicht. Aber wir haben den trotzdem angemeldet. Auch ohne Empfehlung.“ In Hamburg laufen derzeit die Anmeldungen für die weiterführenden Schulen und der NDR berichtet: „Behalten die Gymnasien die Nase vorn?“
„Bei uns früher im Dorf, da haben ja viele Jungs ihren Hauptschulabschluss gemacht, und dann eine Handwerksausbildung“, erzählt mir eine alte Freundin. Theoretisch kann man heute wohl immer noch einiges werden, mit einem Hauptschulabschluss, praktisch nehmen die Betriebe, wenn sie es sich denn aussuchen können, dann doch den Lehrstellenbewerber mit Realschulabschluss oder sogar Abitur. Mit einem Abitur in der Tasche muss man nicht unbedingt studieren, man kann auch sehr gut den Realschulabgängern den Ausbildungsplatz wegschnappen.
Aber darum geht es noch nicht mal, wenn die Mutter im Bus sich empört, dass ihr Jonas keine gymnasiale Empfehlung bekommen hat. Sie ist beleidigt, weil sie glaubt, dass die Lehrer ihr Kind dümmer, fauler oder unbegabter finden, als die Kinder, die eine gymnasiale Empfehlung haben. Denn auch auf einer Stadtteilschule kann ihr Jonas das Abitur machen. Er hat ein Jahr länger dazu Zeit, er lernt in einer kleineren Klasse und auf einer Schule, in die die Stadt jetzt mehr Geld steckt. Trotzdem ist die Mutter ganz wild darauf, ihr Kind auf ein Gymnasium zu schicken. 53 Prozent der Kinder sind im Jahr 2015 auf einem Gymnasium angemeldet worden. 53 Prozent können unmöglich studieren und Akademiker werden wollen. So setzt sich die Gesellschaft nicht zusammen.
Aber die Eltern wollen ihr Kind nicht nur zum Abitur bringen, um ihm bessere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu verschaffen, denn das könnte das Kind auch auf der Stadtteilschule erreichen, sie wollen ihr Kind in „guter Gesellschaft“ wissen, in ehrgeizigerer, engagierterer Gesellschaft, zwischen Aufstrebenden. Und je mehr Eltern ihre Kinder auf einem bestimmten Gymnasium anmelden, je mehr sie Tricks anwenden, wie den Wohnort des Kindes zu verändern, damit es bessere Chancen hat, auf genau dieses Gymnasium zu kommen, um so besser, um so erstrebenswerter, muss die Gesellschaft auf diesem Gymnasium sein, um so mehr wollen die Familie und das Kind dazugehören.
Für die Stadtteilschulen bleiben die übrig, deren Eltern solche Kämpfe egal sind oder denen fast alles egal ist, die sowieso nicht glauben, dass ihre Kinder es zu etwas Besserem bringen könnten. Oder die wenigen Idealisten, die sich politisch verhalten und an die Idee und die Qualität der Stadtteilschule glauben, die inzwischen nun auch die Inklusion fast ganz alleine wuppen muss.
Auf einem Elternabend kamen schon mal nur drei Eltern, berichtete mir eine Stadtteilschul-Lehrerin. Auf einem Elternabend auf dem Gymnasium sitzen mehr Eltern als Schüler in der Klasse sind, weiß ich aus eigener Erfahrung. Einst gab es in Hamburg mal eine Idee von einem gerechteren Schulsystem. Ehrgeizige Eltern haben das zu verhindert. Die Stadt hat immerhin versucht, die Stadtteilschulen zu fördern, und die Lehrer geben sich große Mühe, aber wie sollen sie es schaffen, wenn die meisten Eltern, ihre Kinder nicht in einer Stadteilschule anmelden? Wenn sie glauben, dass ihre Kinder dafür „zu gut“ sind?
In Altona gäbe es jetzt ein neues Gymnasium, in der Struenseestraße, heißt es im NDR-Bericht weiter. Dass eben bis jetzt an dieser Stelle noch Kinder in einer Stadteilschule unterrichtet wurden, die herausgeworfen werden, weil ihre Schule einem Gymnasium weichen muss, wird nicht erwähnt.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse amFremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ istbei Rowohlt Berlin erschienen.
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