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Archiv-Artikel

Elektrifizierte Seelen

Christian Haller führt durch Schweizer Wohnzimmer, Landschaften und Werkhallen: der autobiografisch inspirierte Roman „Das schwarze Eisen“

VON GUSTAV MECHLENBURG

Der Kunst- und Kulturkritiker Aby Warburg schrieb im Jahre 1895 über die Elektrizität: „Durch sie zerstört die Kultur des Maschinenzeitalters das, was sich die aus dem Mythos erwachsene Naturwissenschaft mühsam errang, den Andachtsraum, der sich in den Denkraum verwandelte.“ Der Sohn, Enkel und Ich-Erzähler aus Christian Hallers Roman „Das schwarze Eisen“ sitzt bei einer Tasse Kaffee auf der Veranda und versucht rückblickend, einen solchen Andachts- und Denkraum zurückzugewinnen. Das Tal, auf das er blickt, gibt es in seiner Ursprünglichkeit nur noch auf dem Gemälde an der Wand. Die Elektrifizierung, vorangetrieben durch den Großvater, nötigte der Natur einen riesigen Stausee auf, in dem die bisherige kulturelle Welt mit untergegangen zu sein scheint. Vor allem die mystische Welt der Mutter des Erzählers, die der Großvater, selbst in Armut aufgewachsen und geschichtslos, nie akzeptiert hat.

Wie nah sich die beiden Erwachsenen sind, merken sie nicht. Die der Kultur verpflichtete Dame der Gesellschaft entfaltet ihre Vorstellungen von Geschichte in ebensolchen abgeschlossenen Stauseen, einer Art gedanklichem Elite-Aquarium, die vom wortkargen Schwiegervater tatsächlich hergestellt werden. Auf dass die Projektionen in der Tiefe des Sees zu einem Abklingbecken werden, für grausame Jugenderinnerungen, verklärende, magische Werte, den die Macht der Familie Haller fördernden technischen Fortschritt und die bizarren Begegnungen mit einem Mann, der „Hettler“ oder „Heitler“ genannt wird, lange vor dessen Machtergreifung in Deutschland.

Eine neue Zeit beginnt mit der Elektrizität, die die Schweiz nahezu unabhängig macht von Energie und Rohstoffen aus dem Ausland. Es ist die Zeit Hallers. Ein Aufsteiger und Aufschneider. Weil er gestohlen hatte, musste er in Jugendjahren zur Fremdenlegion nach Nordafrika. Eine bleibende Erfahrung, die er sein Leben lang verschweigt. Unwirsch und autoritär herrscht er, zurückgekehrt in die Schweiz, über sein Stahlwerk und seine Familie.

Der Vater des Ich-Erzählers, der seine Frau von einem Sanatoriumsaufenthalt her zu kennen meint, den er wegen drohender Erblindung unternehmen musste, folgt den psychischen Strukturen seines Vaters, ohne es zu wissen. Verliebte sich der Vater fast blind, pflegt der Großvater seine Frauen stets mit einem Tuch über ihren Gesichtern zu lieben. Die endgültige Emanzipation von den Auffassungen des alten Haller gelingt ihm erst in den Fünfzigerjahren. Die Erfindung der Spanplatte und deren massenhafter Gebrauch in Bürger- wie Proletarierhaushalten ist Sinnbild einer Nachkriegsmoderne, deren Projektionen starr auf das Zerschreddern und Neuverleimen der ganzen Gesellschaft gerichtet sind. Die Stausee-Metapher ist dem Spanplattenfabrikanten gleichgültig. Die Probleme mit den „Lackaffen“ der feinen Schweizer Gesellschaft sind seine nicht länger. Was der Großvater verschwieg und die Frau verklärte, ist, zu Platten geformt, nun Teil eines Nierentischs, keine Herzensangelegenheit mehr: „Novo pan, der neue Herr.“

Auch wenn sie hier betont wird, die Metaphorik ist höchst unauffällig, unaufdringlich, die Sprache des Romans detailverliebt und persönlich. Christian Haller schließt mit dem „Schwarzen Eisen“ an sein ebenfalls autobiografisch inspiriertes Buch „Die verschluckte Musik“ an. Ging es dort um die Welt der Mutter, die als Tochter eines Schweizer Textilindustriellen in Bukarest eine großbürgerliche Kindheit verbrachte, handelt das neue Buch vom väterlichen Zweig der Familie. Die Familiengeschichte Hallers ist zugleich ein Stück Schweizer Industrie-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Autor führt uns durch Wohnzimmer, Landschaften und Werkhallen. Und alles vereint im „Dörfli“ in der Landesausstellung, das zum Leitbild schweizerischen Lebens wurde. „Ein frühes Disneyland, das durch ‚Innenkolonisation‘ – wie ein Ausstellungsteil hieß – auf das ganze Land ausgedehnt werden sollte und in Teilen, wie den Gewässerkorrektionen, auch schon verwirklicht war.“

Erinnert die Familiensaga Hallers an Thomas Manns „Buddenbrooks“, so ist der Sanatoriumsaufenthalt bei ihm eine beabsichtigte Parallele zu Thomas Manns „Zauberberg“. Warf dort der Erste Weltkrieg seine Schatten voraus, ist es hier das Dritte Reich. Der Physiker Löw bestätigt bei einem dieser Sanatoriumsgespräche die Ambivalenz des technischen Fortschritts. „Kandinsky, Chagall, das Entstehen der Avantgarde am Anfang des Jahrhunderts hat mit der Elektrizitätsforschung zu tun, mit dem Ikonoklasmus der Physik, und diese Maler und ihre Bilder werden jetzt abgelehnt, wie ich und meine Arbeit auch, sie werden zerstört, ihre Schöpfer verfolgt, während man gleichzeitig Hertz’ Entdeckung, die Radiowellen, den ‚Äther‘, wie Löw spöttisch beifügte, auf so schamlose Weise missbraucht.“ Wie die faschistische Propaganda und der Krieg auch vor der Schweizer Grenze nicht Halt macht und wie auf ganz persönlicher Ebene Aufklärung in Mythos umschlägt, hat Haller in seinem Roman anhand einer außergewöhnlichen Familiengeschichte eindrücklich nachgezeichnet.

Christian Haller: „Das schwarze Eisen“. Roman. Luchterhand Verlag, München 2004, 400 Seiten, 22,50 Euro