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Eklat im Volksdeputiertenkongreß

■ Auseinandersetzungen um die Bildung des Verfassungskontrollkomitees / Baltische Volksdeputierte verlassen die Sitzung / Heftige Kritik an der Führungsrolle der Partei / Ryschkow im Amt bestätigt

Moskau (dpa/taz) - Zum Eklat ist es gestern im Kongreß der Volksdeputierten in Moskau gekommen. Nach einem erbitterten Streit über die Bildung des Komitees für Verfassungskontrolle verließen die litauischen Abgeordneten am abend geschlossen den Saal, weil sie sich bei der Bildung des Komitees übergangen fühlten. Staatspräsident Michail Gorbatschow vertagte daraufhin die endgültige Entscheidung auf Freitag.

Dem umstrittenen Komitee soll die Funktion eines Verfassungsgerichts zuwachsen. Als Vorsitzenden des für zehn Jahre amtierenden Komitees hatte Gorbatschow den 66jährigen Vizepräsidenten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften Wladimir Kudrjawzew vorgeschlagen. Die übrigen Namen der Komiteemitglieder wurden den Deputierten erst gesern nach der Morgensitzung des Kongresses vorgelegt.

Die Bildung des Komitees war im letzten Herbst gegen den Einspruch der baltischen Republiken beschlossen worden. So überraschte es nicht, daß vor allem Redner aus diesen Republiken bei der jetzt anstehenden Konstituierung heftigen Widerstand gegen die von Gorbatschow eingebrachte Liste leisteten und mit Wahlboykott drohten. Viele Deputierte befürworteten eine Vertagung der Komiteegründung auf Herbst.

Die Balten fürchten, daß das Komitee auf der Grundlage der Allunionsverfassung die nationalen Autonomiebestrebungen, besonders deren rechtliche Fixierung auf Republiksebene einschränken wird.

Trotz heftiger Kritik einzelner Abgeordneter hatte der Kongreß der Volksdeputierten in der gestrigen Sitzung mit überwältigender Mehrheit den sowjetischen Regierungschef Nikolai Ryschkow in seinem Amt bestätigt. Ryschkow erhielt 59 Gegenstimmen bei 87 Enthaltungen.

Die sowjetische Parteiführung und Regierung waren am Morgen von mehreren Abgeordneten abermals scharf kritisiert worden. So wandte sich der Agarwissenschaftler Alexei Jemeljanow in Anwesenheit Gorbatschows gegen die Zusammenlegung der höchsten Ämter in Staat und Partei. Zudem stellte er die führende Rolle der Partei in Frage und bezeichnete die heutige Politik der Sowjetführung als „inkonsequent“. „Die Partei ist ein Teil des Volkes, folglich steht das Volk auch über der Partei“, erklärte Jemeljanow unter dem Beifall der Delegierten.

Ein Deputierter der zentralasiatischen Sowjetrepublik Kasachstan, der Schriftsteller Olschas Suleimanas, verlangte die Schließung des nuklearen Testgeländes „Semipaltinsk“. Die seit mehr als vier Jahrzehnten immer wieder stattfindenden Explosionen hätten die Kraft von „2.500 Hiroshimas“ gehabt.

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