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■ Ekel einer parteilosen BürgerinRespekt verspielt

betr.: Regierung, Opposition und Vertrauensabstimmung

In den Siebzigerjahren kriegten in der alten BRD eine Menge Leute Berufsverbot, weil man ihnen vorwarf, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes (GG) zu stehen. Heute ist es mit dem gleichen GG offenbar verfassungskonform, wenn der Bundeskanzler der Bundesrepublik einem anderen Staat einen Freibrief gewährt, Nibelungentreue schwört und ein Ermächtigungsgesetz durch das Parlament bringt.

Die Nachdebatte nach der Vertrauensabstimmung ist genauso manipulativ wie die Vordebatte. Leute wie ich kommen darin nämlich gar nicht mehr vor. Leute, die Jahr für Jahr mit größerem Zähneknirschen ihre Bürgerrechte wahrgenommen haben und mit immer weniger echten Alternativen noch zur Wahl gegangen sind. Leute wie ich, die immer noch verhindert haben, dass es in der BRD ähnlich zugeht wie in den USA, in denen der mächtigste Mann der Welt mal gerade aus einer Wahlbeteiligung von etwas über 30 Prozent hervorgeht. Leute wie ich, die ihren zunehmenden Ekel vor der immer ununterscheidbarer werdenden Politikerkaste heruntergeschluckt haben bis zu dem Punkt, wo der Topf überläuft.

Mein Topf ist übergelaufen bei der „uneingeschränkten Solidarität“ und der Verblüffung darüber, dass der Skandal dieser Aussage auch nicht einen Bruchteil der Pressereaktionen herausgefordert hat, wie bei der wochenlangen Debatte um die „Leitkultur“, die unsäglich aufgebauscht doch nur die aus jeder Ecke vorhersagbaren Sätze geliefert hat. Nach meinem Verständnis vom Grundgesetz und als juristische Laiin darf der Bundeskanzler eines demokratischen Staates einem anderen Staat nicht die „uneingeschränkte“ Solidarität erklären, was ja, weil der Begriff sowieso unsinnig ist, zu übersetzen ist mit „bedingungsloser Gefolgschaft“. Früher sagte man: Führer befiehl, wir folgen.

Im vorliegenden Fall wäre es richtig gewesen, von tiefstem Mitgefühl zu reden und dem Willen, den anderen Staat zu unterstützen bzw. den Kampf gegen den Terrorismus auch zum eigenen zu machen im Rahmen normaler rechtsstaatlicher und öffentlich zu diskutierender Mittel, in deren Rahmen dann auch über militärische Mittel, militärischen Beistand usw. zu beraten gewesen wäre. Nicht die „Vertrauensabstimmung“ ist der Skandal, sondern die Hinnahme dieses Ausdrucks durch Regierung und Opposition.

Ich habe meine Stimme keinem Politiker gegeben, damit er in meinem Namen seine Verantwortung und Souveränität abgibt. Protest darüber gab es sehr vereinzelt in der Presse und sehr vereinzelt, aber vollkommen konsequenzlos in Regierung und Opposition. Für parteilose und bald auch nichtwählende BürgerInnen modelliert sich die Parteienöffentlichkeit inzwischen zu einem vollkommen andern Bild, als es die Protagonisten von sich selber haben mögen: Aus der inzwischen gewachsenen Distanz des „beobachtenden Volkes“ entwickelt sich vor unseren Augen eine Gruppe von PolitikerInnen und JournalistInnen, die jeden Respekt täglich mehr verspielen, auch wenn sie zu Parteien, Zeitungen, Sendern gehören mögen, die einem mal näher standen als andere Parteien auf der einen Seite und einigen wenigen quer durch die Parteien, die persönlich glaubwürdig erscheinen, auch wenn man ihre Meinung nicht teilt, auf der anderen Seite. Für mich persönlich sieht das dann so aus, dass mein Ekel schwindet, wenn ich, sagen wir als Beispiel, den bayrischen Innenminister Beckstein von der CSU im Fernsehen sehe, Sarah Wagenknecht von der kommunistischen Plattform oder den ehemaligen FDP-Abgeordneten Hirsch, weil mir diese Personen integer zu sein scheinen.

Der Ekel bricht aber aus, wenn Frau Roth mit bebender Stimme als Sieg verkündet, dass mit ihrer, der Grünen, Entscheidung Westerwelle verhindert worden sei (und niemand lacht, geht selber oder schmeißt Frau Roth raus), oder wenn Frau Merkel herumkrakeelt und aus jeder Kante der Opposition, die noch nicht stromlinienförmig geschaltet ist, ihr eigenes Schnäppchen herauszupressen versucht, oder wenn Frau Christiansen als Öffentlichkeit die immer gleichen Parteibonzen verkauft und sich dann noch alle im in sich kreisenden luftdicht verschlossenen Zirkel wie der Bambi-Preis-Verleihung treffen und sich selber feiern. Der Souverän, das Volk, scheint vollkommen aufgesogen von seinen Vertretern. HELKE SANDER, Filmregisseurin

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