: Einstürzende Altkirchen
Hunderte kleiner Dorfkirchen sind in Brandenburg akut vom Einsturz bedroht. Sanierungsgelder vom Bund gibt es seit Jahresbeginn aber nur noch für große Dome. Lokale Initiativen sorgen sich nun um den Erhalt der seltenen öffentlichen Räume. Doch eine Instandsetzung übersteigt ihr Vermögen
VON FLORIAN HÖHNE
Postkartenfotografen verirren sich selten nach Königsberg in der Ostprignitz. Wäre einer zugegen an diesem sonnigen Morgen, er risse das rot-weiße Absperrband raus, das unruhig im Wind flattert. Er würfe die kleinen gelben Schildchen weg, die wie Miniaturwachtürme aus dem Rasen lugen und warnen: „Betreten verboten – Eltern haften für ihre Kinder“. Inmitten der blickstörenden Absperrungen thront das Postkartenmotiv, das Wahrzeichen von Königsberg: eine der größten Feldsteinkirchen in der Prignitz, gebaut im 15. Jahrhundert.
Doch der Postenkartenknipser täte Gefährliches. Denn an den mehr als einen Meter dicken Steinwänden längs der Ostwand ziehen sich lange Risse durchs Gemäuer. Die Wand selbst neigt sich altersschwach. Seit dem 8. April, Gründonnerstag, ist die Kirche von der Bauaufsicht gesperrt: Sie ist akut vom Einsturz bedroht. „Den Gottesdienst für Karfreitag hatten wir schon vorbereitet“, erzählt Pfarrer Berthold Schirge.
Die Königsberger Dorfkirche ist kein Einzelfall. Rund 200 bis 300 der insgesamt 1.600 Dorfkirchen in Brandenburg seien akut gefährdet, schätzt Matthias Hoffmann-Tauschwitzer, Referent für Planung, Denkmalwesen, Kirchen und Kunst beim kirchlichen Bauamt der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Die Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland (KiBa) spricht gar von 500 bis 600 Kirchen und Kapellen. Genaue Zahlen lassen sich nicht ermitteln, weil es weder eine Meldepflicht für bedrohte Dorfkirchen gibt noch einheitliche Kriterien dafür, was „bedroht“ heißt.
Wie viele andere sieht auch die Kirche in Königsberg auf den ersten Blick aus, als könne sie noch weiteren 500 Jahren trotzen – von Rissen und warnendem Absperrband abgesehen. Doch die Bausubstanz ist marode: „Die Balken des Dachstuhls sind noch schiefer als die östliche Giebelwand“, erklärt Fred Sobik. Er sitzt im Königsberger Gemeindekirchenrat (GKR) und ist ein Experte für Dorfkirchen in der Prignitz. „Bei jeder Windbö könnte das Kirchenschiff zusammenstürzen.“ Der leichte Luftzug, der in den Bäumen raschelt und eben noch friedlich klang, hört sich gleich anders an.
Das Geld für die dringend nötige Sanierung der Kirchen fehlt. „Die Dorfkirchen in Brandenburg sind uns eine permanente Sorge“, sagt der Probst der evangelischen Landeskirche, Karl-Heinrich Lütcke. Einmal im Jahr gebe es eine Kollektensammlung für die Dorfkirchen. Hinzu kommen 1,53 Millionen Euro, die das Land Brandenburg nach dem Staatskirchenvertrag für die Bestandserhaltung überweist. „Das reicht aber alles beileibe nicht“, so Lütcke.
Ein herber Schlag für die Dorfkirchenfreunde war es, als zu Beginn dieses Jahres das Notförderungsprogramm der Bundesregierung „Dach und Fach“ ersatzlos gestrichen wurde. Seit 1996 hatte der Bund jährlich sechs Millionen Euro an Fördergeldern für Baudenkmäler in den östlichen Bundesländern bereitgestellt. Das Geld vom Bund machte 40 Prozent der Gesamtförderung im Dach-und-Fach-Programm aus: Weitere 40 Prozent kamen vom jeweiligen Land, 20 mussten die Kommunen oder regionale Vereine beisteuern. Auch zahlreiche Brandenburger Dorfkirchen hatte das Notprogramm vor dem Verfall bewahrt.
An die Stelle von Dach und Fach trat das Programm „Investitionen für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland“ mit ebenfalls rund sechs Millionen Euro jährlich. Gefördert wird Kultur von nationaler Bedeutung. Dorfkirchen in der Ostprignitz fallen nicht darunter. Die Sprecher von Land und Kirchen seufzen nun einhellig: „Es muss etwas getan werden, aber von welchem Geld?“
„Wir hoffen auf das Engagement vor Ort – auch von Nicht-Kirchenmitgliedern“, sagt Lütcke. Lokale Initiativen gibt es reichlich: „Rund 150 Fördervereine“, schätzt Bernd Janowski vom Förderkreis Alte Dorfkirchen in Berlin und Brandenburg, dem Dachverband dieser Gruppen. Vielen kleinen Kirchen konnten diese Vereine auch schon helfen – allerdings oft mit der „Dach und Fach“-Hilfe vom Bund.
Die Königsberger haben auch schon einen Förderverein gegründet und Klara Huber, die Frau des Bischofs, als Schirmherrin gewonnen. Große Sprünge aber sind nicht möglich: Königsberg hat 270 Einwohner, 100 davon sind Mitglieder der Kirchen-gemeinde. „Wenn sich alle sehr, sehr anstrengen, kriegen wir 5.000 Euro zusammen“, schätzt Pfarrer Schirge, „das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn es um Sanierungsmaßnahmen geht.“ Und im Norden Brandenburgs ist Königsberg mit 270 Einwohner noch groß: „Jedes Dorf hat eine Kirche, aber oft nur 60, 70 Einwohner. Wo sollen da die Mittel herkommen?“, fragt Janowski.
So droht den Dorfkirchen zum Verhängnis zu werden, dass sie Dorfkirchen sind: Sie sind eben nicht ein einziger großer Dom, zu dem Touristen und Postkartenfotografen hinpilgern können. Weit voneinander entfernt liegen sie an den Bedarfsbahnhöfen Brandenburgs.
Königsberg hat noch nicht einmal einen Bedarfshalt. Der nächste liegt im knapp acht Kilometer entfernten Blumenthal. An der kleinen Eingangstür der Dorfkirche hängt – direkt neben dem blauen Schild „Denkmal“ – ein dickes Schloss, die grau beschlagenen Fenster erlauben keinen Blick ins Innere. Vor der Sperrung aufgenommene Fotos zeigen einen viel zu bunt bemalten Taufengel, eine reichlich verzierte Kanzel aus dem Jahre 1630 und den Spätrenaissance-Altar aus dem Jahre 1631. Gebaut und über Jahrhunderte erhalten wurde die Feldsteinkirche von den reichen Bauernfamilien von Warnstedt zu Königsberg, Fretzdorf und Ganz. Die Patronswappen in der Kirche zeugen heute noch davon – ein Stück Brandenburger Geschichte.
Die letzten Sanierungen liegen lange zurück: in den 60ern wurden Dach und Innenraum restauriert. Das hilft aber nicht gegen Risse. Die Stützpfeiler, die, im 18. und 19. Jahrhundert erbaut, die geneigte Ostwand halten sollten, schaden eher: „Sie pressen das Erdreich, sodass die Wand noch schiefer steht“, erklärt Kirchenrat Sobik und seufzt. Seit 15 Jahren wohnt er in Königsberg.
Bei vielen Kirchen liege die letzte Instandsetzung 80 bis 100 Jahre zurück, schätzt Bernd Janowski, Geschäftsführer vom Förderkreis Alte Kirchen in Berlin und Brandenburg: „Die 40 Jahre kirchenfeindliche DDR waren nicht das Einzige. Auch während des Nationalsozialismus und in der Weimarer Republik wurde nicht saniert.“ Davor waren Patronatsfamilien und politische Dorfgemeinde zusammen für ihre Kirche verantwortlich: Die Patrone lieferten das Material, die Dorfbewohner die Arbeitskraft.
Was da heute verfällt, ist oft nicht nur Gottesdienstraum und Kulturerbe, sondern auch der letzte öffentliche Raum. „In vielen Dörfern ist die Kirche das einzige öffentliche Gebäude“, sagt Janowski, „Kirchen entziehen sich marktwirtschaftlicher Nutzung.“ Seit in Königsberg der Gaststättensaal geschlossen ist, gibt es nur noch zwei öffentliche Räume: die Kirche und eine Turnhalle. „In der Turnhalle können wir wohl keine Konzerte veranstalten, wie wir das vorher in der Kirche konnten“, sagt Elisabeth Lau, die Kirchenrats-Vorsitzende, und schwärmt von dem letzten Konzert des Potsdamer Bläserchors in „ihrer“ Dorfkirche. Ihr ganzes Leben hat sie in Königsberg verbracht: „Ich kann mir Königsberg ohne die Kirche nicht vorstellen. Sie ist das erste, was ich von meinem Heimatdorf sehe, wenn ich vom Nachbarort Herzsprung komme.“ Von weitem sieht man auch das rot-weiße Absperrband noch nicht.