: Eine verhängnisvolle Affäre
Bücher vor Gericht: Heute wird in München über das weitere Verbot von Maxim Billers Roman „Esra“ entschieden
Wiegt die Freiheit der Kunst schwerer als das Persönlichkeitsrecht Einzelner? Auf diese schlichte Formel kann, wer mag, den Konflikt um Maxim Billers Roman „Esra“ bringen, dessen weitere Auslieferung im März dieses Jahres durch eine einstweilige Verfügung gestoppt wurde (taz vom 7. 3.). Zwei Frauen, eine Mutter und ihre Tochter, hatten geklagt, weil sie sich in zwei Figuren des Buchs wiedererkannt und wohl auch unvorteilhaft porträtiert fanden.
In zweiter Instanz muss das Oberlandesgericht München heute klären, ob die Restexemplare der ersten Auflage von „Esra“ bald Sammlerwert besitzen werden oder nicht: Diese waren vom Verlag Kiepenheuer & Witsch noch an die Buchhandlungen ausgeliefert worden, als das Verbot erging. Nachdem die letzte Verhandlung am 9. Juli zu keinem Ergebnis kam, wird für heute ein Urteil erwartet. Der weitere Verfahrensweg könnte aber gut und gerne noch bis vors Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe führen.
Worum aber geht es? Maxim Biller ist ein brillant-kontroverser Autor, dessen knappe Kolumnen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung der beste Grund sind, das Blatt zu kaufen, und „Esra“ sein gelungenster Roman bisher: Eine schöne, melancholische Geschichte über die Unmöglichkeit der Liebe. Es ist aber auch ein Buch, das seine Leser zu unfreiwilligen Voyeuren macht, weil es nahe legt, dass zumindest Teile der Erzählung auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen. Denn in „Esra“ wird mit allerhand Details kenntlich gemacht, dass Ähnlichkeiten der Protagonisten mit lebenden Personen keinesfalls dem Zufall geschuldet sind, sondern vielmehr beabsichtigt.
Nun ist fast jede Form von Literatur mehr oder weniger autobiografisch gefärbt. Weil bei Biller jedoch die Frage der Authentizität ein zentrales Motiv des Romans ausmacht, bleibt es nicht mehr allein der Fantasie des Lesers überlassen, über Realitätsgehalt und mögliche Wirklichkeitstreue der Schilderungen in „Esra“ zu mutmaßen. An einer – inzwischen oft zitierten – Stelle bittet die Titelheldin ihren Liebhaber, einen jüdischen Schriftsteller, ihr zu versprechen, nie, nie, nie über sie zu schreiben. Er aber mag dieses Versprechen nicht geben, weil ihm das Ansinnen, wie er fürchtet, als Autor die Luft zum Atmen rauben würde.
„Esra“ hadelt auch, wenn man so will, von der Unmöglichkeit, beim literarischen Schreiben nicht unweigerlich den Blick durchs Schlüsselloch freizugeben. Nur scheint es, als sei Maxim Biller hier ein Opfer seines eigenen radikalen, oft postulierten Authentizitätsanspruchs geworden. Immer wieder hat er seinen Kollegen vorgeworfen, ihre Bücher seien blutleer und zu weit vom „wahren Leben“ entfernt, sein Wort von der „Schlappschwanzliteratur“ ist notorisch. Doch gerade dass er „Esra“ nun dem reinen Leben abgeschaut haben will, wird für ihn jetzt zum Problem: In Zeiten der ungefragten Intimbeichten von Bohlen bis Effenberg möchten manche wohl gerne auf weitere Bekenntnisprosa verzichten.
Dafür hat sich bereits eine ganze Reihe von Schriftstellern solidarisch hinter Maxim Biller gestellt: Eine verständliche Geste unter Berufskollegen, schließlich bedroht jede juristische Beschneidung der Kunstfreiheit potenziell ja auch das eigene Werk.
Doch der Vergleich mit Klaus Manns Roman „Mephisto“, zu Billers Verteidigung häufig herangeführt, er hinkt. Manns „Mephisto“, unverkennbar eine Parabel auf die Karriere des Schauspielers Gustaf Gründgens in Nazi-Deutschland, war 1964 verboten worden, was heute zu Recht als Skandal gilt. Die beiden Gegenspielerinnen von Maxim Biller aber klagen nicht als prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sondern fühlen sich als Privatpersonen bloßgestellt. Da dürfte auch der Schutz der Persönlichkeitsrechte anders gewichtet werden als bei einem Prominenten, der sich ohnehin ständig in der Öffentlichkeit bewegt und dem die Möglichkeit zur öffentlichen Erwiderung weit mehr gegeben ist als dem Durchschnittsbürger.
Solche Normalbürger vor der Zumutung zu bewahren, ihr Privatleben in der Öffentlichkeit in unverhältnismäßiger Weise ausgebreitet zu sehen, ist nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern auch des guten Stils. Gegen diesen guten Stil hat Maxim Biller verstoßen, vorsätzlich: Unter Berufung auf seine schriftstellerische Freiheit. Aber hat er das in unverhältnismäßiger Weise getan? Und haben die beiden Klägerinnen ihrem Anliegen nicht selbst am meisten geschadet, indem sie durch ihre Klage erst für das öffentliche Interesse an ihrem Fall gesorgt haben?
Juristisch sind solche Fragen nur schwer zu klären: Wo genau die Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Klägerinnen beginnt und wo die Freiheit eines Autors endet, seinen Roman auch zur persönlichen Abrechnung zu nutzen, wie Kritiker Biller unterstellt haben. Wo auch immer das Gericht hier eine Grenze ziehen wird: Es wäre wirklich schade um „Esra“, würde das Buch an Billers Exhibitionismus scheitern. DANIEL BAX