■ Eine vaterlose Partei: Die SPD nach dem Tod Willy Brandts
Parteien sind wie großes Theater, besetzt mit den Rollen des echten Lebens. Großfamilien gibt es zwar nicht mehr, aber auf dieser Bühne leben sie noch und fesseln die öffentliche Phantasie wie wunderbare fremde Tiere. Niemand ist zur Zeit so lebensecht dramatisch wie die älteste der deutschen Parteien, die Sozialdemokratie – ein Dinosaurier im Überlebenskampf. Die Zuschauer zittern mit, alles ist zum Anfassen nah, jede Rolle nach den Regeln der klassischen Trägödie besetzt: Da ist der schöne schwache Hamlet (Engholm), der unberechenbare Karl Mohr (Lafontaine), der ausrangierte Rittmeister (Helmut Schmidt), der redliche Verwandte (Vogel), der arme Poet (Klose), die ungeliebte Tüchtige (Däubler- Gmelin), Everybody's Darling (Renate Schmidt), der doppelte Metternich (Stolpe und Bahr), der Ritter ohne Furcht und Tadel (Schily), Lenz aus den dunklen Wäldern (Thierse), der Königsmörder im Schilf (Schröder).
So viele Rollen, soviel Tradition, so viele Geschichten, so viele Talente – und doch wird kein Stück mehr daraus. Als hätten alle den Text und die Regieanweisung vergessen. Das macht: Die zentrale Rolle ist unbesetzt, mit der alle Akteure durch die spannungsreichsten Fäden verknüpft waren. Willy Brandt ist tot. Aber was war eigentlich seine Rolle?
Willy Brandt wurde einmal in einem Interview gefragt, warum er so selten seine Jugendzeit erwähne. „Wissen Sie“, sagte er, wenn Sie unter nicht ganz einfachen Bedingungen aufwachsen, nicht bei der Mutter, sondern beim Großvater, der sich wiederum als Ihr Vater ausgibt, dann lassen Sie das besser einmal beiseite“, – und machte dazu eine Handbewegung, als stelle er ein geschlossenes Kästchen unbekannten Inhalts in den letzten Winkel des Zimmers.
Darüber läßt sich nachdenken: Da wächst einer bei einem Großvater auf, der sich als „Vater“ ausgibt. Später erklärt er sich dann selbst zum „Großvater“ so vieler politischer „Enkel“, die aber alle in dem Alter sind, daß sie bestenfalls „Söhne“ und „Töchter“ hätten sein können. So treffsicher ist der historische Zufall: Die Vaterrolle bleibt unbesetzt. Der Vater ist irgendwie abhanden gekommen, er ist nicht da, oder er will nicht da sein. Und wer sich als Vater ausgibt, ist gar keiner.
Einer der Schlüssel zur Erklärung der Rolle Willy Brandts ist diese Verweigerung gegenüber der Vaterrolle. Die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik hatte überhaupt keine Väter, und sie hätte auch keine ertragen. Die Väter waren im Kästchen in der hinteren Ecke des Zimmers begraben. Die Väter waren in Stalingrad geblieben, und keiner wollte sie wiederhaben. Die vaterlose Gesellschaft von vaterlandslosen Gesellen wurde als befreiend empfunden. Die verbliebenen männlichen Vaterrollen waren besetzt von Komikern wie Heinz Erhard, Heinz Rühmann, Loriot. Oder sie folgten dem Großvater-Enkel-Modell, dem Modell größtmöglicher Konfliktvermeidung bei optimaler patriarchalischer Geborgenheit. Auch Adenauer hatte nur Enkel und keine Söhne.
Außer der einen großen Ausnahme, der verweigerten Vaterrolle, hat Willy Brandt sonst allerdings alle Identifikationsmöglichkeiten angeboten, die sich eine rollenunsichere Gesellschaft nach der Blamage des Männerkults der NS- Zeit nur wünschen konnte. Peter Stein, der Theater-Rebell der 68er, hat das in den gigantischen Satz gefaßt: „Er war ein richtiger Mann ... wahrscheinlich ist mit ihm auch ein wesentlicher Teil von uns selbst gestorben.“ Willy Brandt personifizierte nacheinander und manchmal gleichzeitig viele 68er- Träume: Er war jugendbewegter Überzeugungstäter und Indianer mit unergründlichem Gesicht, Freund von Dichtern und Intellektuellen, Teil eines überzeugenden politischen Paars im Widerstand (mit Rut Brandt) und Liebhaber vieler Frauen, selbstzerstörerischer Depressiver und visionärer Redner von einer magischen Sprachmelodie, Opfer einer Intrige des Kalten Krieges und der Unberührbare, der in Warschau kniet.
Väter, die keine Väter sind, wird man nie los. Es gab tausend Gründe für den unendlich verzögerten Abschied der Enkel von den alten Rollen, tausend Gründe für die Unmöglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem „politischen Vater“ Willy Brandt. Die fand nicht einmal statt, als der Vaterlose sich 1990 als glühender Patriot, als Mann des Vaterlands eine neue unbekannte Rolle zulegte und die Enkel-Söhne damit grandios desorientierte oder demontierte. Eine Auseinandersetzung mit Willy – das Stück hatte keiner vorher geübt.
Vielleicht haben die heutigen besorgniserregenden Probleme der SPD mit dieser unnatürlich verlängerten Adoleszenzphase zu tun – fällt sie doch zusammen mit einer Etappe, in der die ganze Republik eben erst ihre Halbstarkenzeit (forever young) abschließt. Die Gefahr liegt nahe, die alten Rollen einfach noch ein bißchen weiter zu spielen und den „Alten“ von Zeit zu Zeit als Schamanen anzurufen: Hört, was der große Geist uns zur Asyldebatte, was zur künftigen Rolle Deutschlands sagt! Das besorgte Publikum kann nur wünschen, daß die SPD dieser naheliegenden Gefahr auf ihrem kommenden schwierigen Parteitag widersteht. Und wenn dann noch ein Wunsch erlaubt wäre: Die Sozialdemokratie sollte in absehbarer Zeit diejenigen unter ihren Spitzenleuten mit der Führung beauftragen, die am schnellsten und glaubhaft die so lange unbesetzten Vaterrollen übernehmen – auch für die neuen Kids auf der Straße. Antje Vollmer
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