Eine umfangreiche Biografie über den Anarchisten Otto Weidt schließt bisher vorhandene Wissenslücken: Der antifaschistische Bürstenmacher hatte ein Netzwerk
Berlin auf Blättern
von Jörg Sundermeier
Otto Weidt war ein Gerechter. Als „Gerechter unter den Völkern“ wird der Berliner Bürstenfabrikant auch in Jad Vaschem geführt. Völlig zu Recht. Denn Otto Weidt, der 1883 in Rostock geboren wurde, rettete in seiner Werkstatt viele jüdische Blinde und andere vor der Gestapo, einige von ihnen schafften es auch später, die Naziverfolgung zu überleben.
Inge Deutschkron ist wohl die bekannteste von ihnen, sie hat mehrere Bücher über ihre Erlebnisse während der Nazizeit geschrieben, und in allen spielt Otto Weidt eine große Rolle. 1993 wurde auf Anregung Deutschkrons am Haus Nummer 39 in der Rosenthaler Straße eine Gedenktafel zu seinen Ehren angebracht, 1994 wurde sein Grab in ein Ehrengrab umgewidmet, seine ehemalige Werkstatt, in der sich ein Raum noch teilweise im Zustand der vierziger Jahre befindet, dient heute als Museum, das von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand betreut wird.
Es wurden diverse Bücher und Artikel über Weidt geschrieben. Dennoch fehlte bislang vielfach Information über Weidts Biografie. Man wusste zwar, was er während der Zeit der Verfolgung gemacht hatte, doch über sein sonstiges Leben herrschte weitgehend Unklarheit. Dem hilft nun Robert Kain ab mit seinem umfangreichen Buch „Otto Weidt“, in dem er die Jugendjahre Weidts ebenso rekonstruieren konnte wie dessen zunächst starkes Engagement in der anarchistischen Bewegung. So gehörte Weidt unter anderem der Gruppe „Anarchist“ um Rudolf Lange an, betätigte sich als Redakteur an der gleichnamigen Zeitung – auch wenn er, wie Kain mutmaßt, dort eher ein Sitzredakteur war, also ein Genosse, der den Kopf hinhielt, wenn es juristische Probleme gab, und der notfalls hätte einsitzen müssen.
Kain schildert detailliert die vielfältigen Streitigkeiten in der Gruppe, denen Weidt schließlich auch zum Opfer fiel. Anarchisten distanzierten sich von ihm, er wandte sich wohl auch vom organisierten Anarchismus ab. Ein Linker blieb er allerdings sein Leben lang. Der Biograf konstatiert: „Otto Weidt war ohne Zweifel eine vielschichtige Persönlichkeit: Geschäftsmann, Behinderter, Anarchist und Revoluzzer, Draufgänger und Abenteurer, Schauspieler, Ehemann, Liebhaber und Patriarch.“
Seinen Kindern war er ein miserabler Vater, seinen ersten beiden Gattinnen ein schlechter Ehemann, er wollte Bohemien sein, bis seine rasch zunehmende Erblindung ihm diese Rolle nicht mehr erlaubte. Auch als Geschäftsmann war er wohl eher mittelmäßig. Aber ein Retter war er ebenso – der fast blinde Mann scheute sich nicht, Nazis zu bestechen, wenn es um seine Schützlinge ging, er holte einmal höchstpersönlich einen Teil seiner verhafteten Belegschaft wieder aus dem Gefängnis. Er blieb ein Linker und brach mit seinem Sohn, als er glaubte, dieser sei zum Nazi geworden.
Weidt war allerdings, so zeigt Kain auch, nicht allein, er agierte in einem Netzwerk, in dem auch frühe Anarchistenfreunde wiederauftauchen; die bei ihm verborgenen und teilweise mit falschen Papieren arbeitenden Menschen halfen dabei tatkräftig mit. Nicht zuletzt seine Sekretärin Alice Schmidt, selbst eine Verfolgte, die schließlich doch gefasst wurde, den Holocaust allerdings knapp überlebte. Weidt und seine dritte Ehefrau Else machten sie zur Teilhaberin der Bürstenfabrik.
Neben der biografischen Leistung und vielen Richtigstellungen bisheriger Falschannahmen, die Kains Buch bietet, ist auch hervorragend, dass in einem umfangreichen Anhang die Biografien all jener enthalten sind, die Weidt und sein Netzwerk retteten oder doch nicht retten konnten. Auch das macht das rundum gelungene Buch zu einer außerordentlich aufschlussreichen Lektüre.
Robert Kain: „Otto Weidt. Anarchist und ‚Gerechter unter den Völkern‘“, Lukas Verlag, Berlin, 2017, 652 S., 34,90 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen