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■ Eine schockierende Sozialrecherche aus FFMZwei kleine Fluchten

Zeit: Montag letzter Woche, 11.40 Uhr. Ort: Döner-Kebab- Bude Nähe Hauptbahnhof. Hinter der Theke herrscht, dick und reell, Mona. An der Straßenfensterfront lungert wie gewohnt Juan, ihr kleiner Chef und Ehemann. Die beiden Türken sind also Italiener. Freunde authentischen Ausländertums wird dies pikieren, aber Mona und Juan tragen halt keine jener folkloristischen Narrenkappen, wie es gute Deutsche den Ausländern gemeinhin abverlangen – als Gegenleistung für den Schutz vor der Gewalt der Schlechten. „Tanz UNS den Kulturbereicher, sonst dürfen SIE dich unbehelligt totschlagen!“ Nein, meine Kebab-Bude fügt sich dieser Logik nicht. Hier verhökern eingedeutschte Krypto-Mafiosi schamlos matschige Türkeifladen, und es stinkt bestialisch. Denn die Pommes werden in einem sehr greisen Fett bereitet, das, einmal erhitzt, jeden Gewerbeaufsichtsbeamten kampfunfähig machen würde.

Diesen sympathischen Qualmtempel also betrete ich und sehe eine junge Frau mit Kinderwagen an der Theke stehen und gestenreich mit Mona plaudern. Es geht, so höre ich schnell, um Parfum. „Ich nehme jetzt immer Sir“, sagt die Frau. „Das falsche Gespräch am falschen Ort“, sagt Magen zu Gehirn; augenblicklich wird mir ein bißchen schlecht. „Das mit der... der Nummer ist aber auch gut“, gibt Mona zu bedenken, und schon fehle ich: Bitte, jetzt nicht noch 4711! Aber nein: „Chanel 4, riecht wunderbar dezent!“

Zum Glück kann ich mich lösen, überquere die Straße und besteige einen Bus. Gegenüber einem sehr dicken Mann lasse ich mich nieder. Derlei Bürger haben bekanntlich mit einer ganzen Horde von Unterstellungen zu kämpfen, wobei die Mär, sie ruhten tiefer als andere in sich selbst, noch die wohlwollendste ist. Und wirklich dünkt mich dieses Mannes Oberarm, der meinen Brustkorb in die Schranken schickt, als Signum von Gemütlichkeit und langem Leben. Dann freilich lüftet Obelix die Jacke, und ich stutze – trägt sein gespanntes T-Shirt doch immerhin den Schriftzug „body culture“. Als ich nachsinne, ob dies nun gymnastikkritische Ironie oder bloß dem Umstand zu verdanken sei, daß die Tonne zusätzlich Analphabet ist, durchschreitet eine ebenfalls sehr mollige Dame den Bus. Ihr Shirtaufdruck ist allerdings als Bild gehalten und zeigt eine jener schlanken Modelfrauen, wie sie Illustrierte zieren. Welche Frage mir bis heute bange macht: Gehört solche Selbstkasteiung in die Reihe jener neueren Textilfaschismen, unter deren Joch sich auch das Segment der arbeitslosen Eckensteher seit etwa 92 und sehr ausnahmslos in knallbunter Sportswear präsentiert? Als habe man's mit einem Erlaß zu tun, der die Sozialämter preßt, so etwas zu verschreiben? Dies wäre freilich Stoff für eine schockierende Sozialrecherche mit dem Titel: „In allen Farben des Elends. Sozialämter zwingen Eckensteher in oszillierende Overalls“.

Meiner direkten Nachbarin gewahr werden und mich ein wenig kratzen, ist dann eins. Denn die in einem Buch lesende, etwa 40jährige Brunette trägt nicht nur große rote Flecken im Gesicht, sondern wendet auch alle zehn Sekunden ihren Kopf zu mir hin, als sollten kleinste Teile ihres Scharlachs auf mich übergreifen. Dann aber entziffere ich den Titel ihres Buches und falle in die Hölle: „Ab heute flirte ich mit jedem“, heißt es krud und überdeutlich. Und aus Angst, daß dies Infant, dem ich sofort den Namen „Ein Gegenstand gerechten Spotts“ verleihe, schon sehr bald alles ausgelesen und die Lektiönchen intus haben werde, spring' ich auf, betätige die Notbremse, verlasse den Bus und gehe heim. Zu Fuß. Man hat ja schließlich Beine. Thomas Gsella

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