Eine Rocklegende gibt sich die Ehre

■ Die Rolling Stones sind bereits ein Denkmal der Rockmusik

Nach acht Jahren wieder live dabei, starteten die Rollenden Steine am Mittwoch abend in Hannover ihre Deutschland-Tour. Dabei gelang der längst zum Mythos entschwundenen Band ein feierliches Comeback. Noch einmal die lebende Legende sehen war das eigentliche Motiv für die Pilgerfahrt ins Niedersachsenstadion. Entsprechend andächtig verhielten sich die Fans: Kein hysterisches Gekreische, sondern artiger Applaus begleitete Mick Jagger und Company.

„Mick Jagger, das ist doch ein singender Hampelmann, ein Showmaker“, urteilt ein Rolling-Stones-Fan, den das Zungen-T -Shirt als echten Kenner ausweist. Und wie recht er hat: Keiner hampelt perfekter, keiner macht eine mitreißendere Show, keiner hat diese hinreißende Obszönität des dicklippigen, züngelnden Altrocksänger der Rolling Stones, der mit seiner Band zum ersten Mal seit acht Jahren Europa beglückt.

Doch schon die Szenerie vor dem Erscheinen der Rock -Fossilien war für Spätergeborene urkomisch: Sternförmig pilgerten Autoschlangen auf Hannover zu, aus jeder Kiste krakeelten die Stones. Schließlich am Stadion, kam es zum finalen Meeting der Rock-Rudimente: Zottige Langhaarmähnen, die jeden mondänen Coiffeur in echte Sinnkrisen gestürzt hätten, throhnten am oberen Rand jener Rockfans, die wohl zum letzten Mal ihre Hoden in knallengen Röhrenjeans malträtierten. Am unterem Fan-Rand hingen ausgelatschte Basketballschuhe. Aber auch die fransenbehängte Lederkluft stand hoch im Kurs, sogar einige Latzhosen zeigten sich hemmungslos und ohne Scham.

Doch nicht nur der Blick in die Gesichter der Fans enthüllt, daß sie größtenteils älteren Semester angehören: Speckröllchen legten sich hier und da über den sexy Hosenbund der lange Jahre gehüteten Flickenjeans, unter dem zerrupften, verdreckten T-Shirt blinkte ein blitzsauberes Schiesser-Unterhemd hervor. Kein Zweifel: Nicht nur die Stones sind in die Jahre gekommen.

So war die Stimmung im Fußballstadion Stunden vor dem Konzertbeginn - gesetzt, heiter und friedlich, obgleich eine unterschwellige Ellenbogentechnik im Kampf um die Platzverteidigung nicht zu übersehen war. Die Lederjacken tauschten Bier und ihre neuesten Computer-Erfahrungen aus. Ein Flugzeug zog, die Zielgruppe erahnend, eine Reisewerbung für Ibiza hinter sich her. Man lästerte über die spießigen Bürokollegen oder erzählte sich Schwanks aus den heißen Zeiten der Matratzenfeten zu Stones-Rhythmen. Was waren wir doch für Hechte...

Nach stundenlangem Warten auf den Holzdielen - den Hechten schmerzten bereits die Gräten - bat die Vorgruppe Gun, Rockmusiker aus Irland, zur leichten Gymnastik. Doch höfliches Klatschen war alles, was sie den stonesfixierten, bewegungsfaulen Fans entlocken konnten.

Wieder Pause, die Roadies schufteten auf der fast 80 Meter langen und annähernd 50 Meter hohen Bühne wie wild. Um halb neun pfiffen die ersten der mittlerweile an Pünktlichkeit gewöhnten Fans (Zeit ist Geld). Nun saß keiner mehr auf den Dielen, die Situation spitzte sich zu. Dann kamen die Könige.

Mit einem bandscheibenschaden-verdächtigen Sprung hechtete Mick Jagger auf die Bühne, seine Kollegen hüpften nach, eine Handbewegung und: „Start me up“. Ohrenbetäubender Lärm und die unvergleichliche Jagger-Röhre machten das Unglaubliche real: Die Rolling Stones sind wieder da. Und wir sind dabei. Eigentlich hat keiner nach den bösen Zerwürfnissen der Glitzerbuben Mick Jagger und des Gitarristen Keith Richards an eine Widerauferstehung geglaubt. Weder die 84er-LP Undercover noch Dirty Work von 1986 zogen die Wurst vom Teller. Als Jagger daraufhin mit einer Solokarriere den Egotrip probte, schienen die Steine ausgerollt zu haben. Doch Jagger solo schlug nicht recht ein. Keith Richards, die heimliche Seele der Stones, rief den durchgedrehten Chef zur Vernunft. 1989 trafen sich die beiden zum Schlichtungstermin auf der Karibik-Insel Barbados, wo der Lead-Gitarrist den angeknacksten Jagger auf den Boden der Rock-Tatsachen zurückholte.

Heraus kam eine verstärkte Produktion, die neue LP Steel Wheels und die bombastischste und gewinnreichste Tournee lebender Legenden: 70 Millionen Dollar garantierte der kanadische Starpromoter Michael Cohl für die US-Tour, für die neun Auftritte in der BRD geistert eine garantierte Verdienstsumme von 19 Millionen durch die Szene. Rockmusik ist Arbeit, betont Mick Jagger schon lange.

Und er arbeitet so gut wie lange nicht. Die enthemmenden Lippen des inzwischen 46jährigen stülpten und kräuselten sich noch verwegener als je zuvor, das faltendurchfurchte, mumienhafte Gesicht war ebenso scheußlich wie anziehend. Mit durchgedrücktem Rücken, das Mikrophon senkrecht vor den Mundwülsten, mit der linken Hand in einzigartiger Weise fuchtelnd, und bei jedem Schritt lasziv federnd, fegte der Maestro über die Bühne.

Hinter ihm ging es einen Zacken ruhiger zu. Bassist Wyman (52) und Gitarrist Ron Wood (42) verharrten meist in reptilienhafter Erstarrung, was sie nicht davon abhielt, perfekten Sound abzuliefern. Drummer Charlie Watts (48) erweckte den Eindruck, nur den anderen zuliebe da zu sein, und haute artig auf die Pauken. Einzig Keith Richards fiel ab und an in den altbewährten Gitarristen-Ausfallschritt, der die Fans so wild macht. Zwei Lieder durfte er, der eigentliche Stones-Chef, selber singen, die trotz geringer Qualität mit rauschendem Beifall bedacht wurden - ein Dankeschön an den Wiedervereiniger.

Doch dann, als Mick Jagger sein Ruby Tuesday ins Mikro hauchte, sich die Nackenhaare der so Betörten aufstellten ob der gebieterischen Haltung des Zauberers, wußte man wieder, wer die Stimme der Stones ist.

Die Show der Stones ist so genial wie perfekt. Eine 18 Millionen Dollar teuere Bühne im Wellblechhüttenstil, gepaart mit zwei Leuchttürmen, verstecken im inneren zwei 17 Meter hohe aufblasbare Puppen, die pünktlich zu Honky Tonk Woman aufgepustet und recht vulgär bewegt werden. Einen leicht albernen Kampf führt Jagger bei Street ighting Man gegen zwei aufblasbare Höllenhunde, deren erigiertes Glied der Altrocker mit einem Gummiklöppel geißelt, bevor er ins Maul der Riesentiere entschwindet.

Doch spätestens bei Sympathy for the Devil verzieh man ihm diesen kindlichen Faux Pas, ihm, Luzifer persönlich. Nur einmal fürchteten die begeisterten Fans um das Heil des Helden. „Satisfaction„, brüllte Fischmaul mit kaum vermuteter Kraft, als ihm die Adern am Kopf, in Großaufnahme an der Videowand zu bewundern, gar zu sehr anschwollen. Was wäre das für ein blamables Ende eines übergierigen Stones: der Tod kurz vor dem Orgasmus.

Michaela Schießl