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Eine Reform ist eine Reform ist eine Reform

■ Keines der Katastrophenszenarien für Rußland ist bisher eingetroffen/ Wirtschaftsreformen noch nicht gescheitert, auch wenn die Bremser aus der alten Nomenklatura in der Regierung gut vertreten sind

„Unter Stalin befand sich unsere Wirtschaft schon am Abgrund. Seither ist sie weiter vorangeschritten“, witzeln Russen, die von den Wirtschaftsreformen nicht allzusehr in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Hungerkatastrophen und Energieengpässe, wie sie seit nunmehr zwei Jahren stetig prognostiziert werden, sind aller kalkulierten Panikmache zum Trotz nicht auszumachen. Allerdings müssen die Russen – so sie können – heute tiefer in die Tasche greifen, um sich etwas leisten zu können. Aber es gibt keinen Hunger und keine Massenarbeitslosigkeit, knapp zwölf Monate, nachdem die russische Regierung mit Reformen endlich ernst gemacht hat.

Der Lebensstandard ist gesunken. Viele nörgeln und meckern, wie sie es immer getan haben. Aber das ist Bestandteil einer Liturgie, deren Abgesang erst mal keine Konsequenzen hat. Doch vor den Delegierten des Volksdeputiertenkongresses teilte Rußlands Hauptreformer Jegor Gaidar eine wichtige Beobachtung mit: Der durchschnittliche Russe habe sich besser an Reformen und die neuen Herausforderungen angepaßt als seine politischen Vertreter. Die gesetzgebende Körperschaft hält nämlich an ihrem alten Subventions- und Verteilungsdenken fest. Die Opposition innerhalb der Regierung schlägt unter der Federführung Alexander Rutskois in dieselbe Kerbe. Hinter ihr stehen maßgebliche Vertreter der alternden staatlichen Industriellenlobby und die alten Direktoren der kollektiven Landwirtschaft. Sie stemmen sich mit Händen und Füßen gegen die Privatisierung „ihrer“ Liegenschaften.

Immer mehr Russen wollen die Privatisierung

Lange galt es als eine unwiderrufliche Tatsache: „Der Russe“, durch Zwangskollektivierung von seinem Boden und bäuerlichen Traditionen entfremdet, fürchtet die Existenz als unabhängiger Bauer. In einer Unterschriftensammlung, die die demokratische Bewegung Rußlands kürzlich durchführte, um ein Referendum zur Privatisierung zu erzwingen, zeigte sich dagegen Erstaunliches: In weniger als zwei Wochen sammelte sie in ländlichen Gebieten zweieinhalb Millionen Unterschriften, weitaus mehr als nötig. Untersuchungen in anderen Wirtschaftsbereichen fördern ähnliche Ergebnisse zutage: Die Haltung gegenüber Privateigentum und Selbständigkeit hat sich zum Positiven gewendet.

Gaidars harter monetärer Kurs wurde in den letzten Monaten von der russischen Zentralbank mehrfach unterlaufen. Zweifel wurden daraufhin laut, ob der geschäftsführende Premier die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds tatsächlich einhalten kann. Die Inflationsrate liegt bei 1.350 Prozent – das Damoklesschwert über den Reformen. Dennoch ist nicht aller Tage Abend. Denn in der Öffentlichkeit würde ein Ende der Reformen nicht auf große Unterstützung stoßen. Schließlich ist der Lebensstandard in anderen ehemaligen Republiken viel weiter gesunken, besonders in der Ukraine, die sich von vornherein gegen Reformen abgeschottet hat.

Schon 20 Prozent arbeiten in der Privatwirtschaft

Dank des russischen Privatisierungsprogramms arbeitet hier schon ein Fünftel der berufstätigen Bevölkerung im Privatsektor. Als Stütze des Reformvorhabens wirkt sich auch die Verlagerung der wirtschaftlichen Entscheidungsgewalt in die Regionen aus. Jetzt können die Gouverneure auf lokaler Ebene über die jeweils adäquate Umsetzung von Reformen verfügen. Genau daran scheint die Opposition der „Bürgerunion“ und der Industriellenlobby jedoch nur am Rande zu denken. Sie fordert massive Kredite für marode Staatsbetriebe, um sie weiter am laufen zu halten oder ihre Produktionsstruktur umzustellen. In diesen Kreisen dominiert noch das Versorgungsdenken.

Alexander Rutskoi, Vizepräsident Rußlands und Galionsfigur der zentristischen Opposition, sollte sich eigentlich seit Frühjahr mit der Landreform befassen. Geschehen ist so gut wie nichts. Er hat diesen Sektor mit Krediten ruhiggestellt. Sein letztes Diktum lautete: „Jetzt geht es nicht um Reformen, sondern um die Steigerung der Produktion.“ Trotz einer guten Ernte ist Rußland gezwungen, monatlich für Millionen Dollar Nahrungsmittel zu importieren.

Auch die Industrie ist vor allem am Output orientiert. Doch die Produktion sank 1992 um 20 Prozent. Nicht mehr als im Vorjahr – vor den Reformen. Die Opposition möchte jetzt, daß der Staat wieder die Preise festsetzt. Bremser Rutskoi und seine zweitklassige Entourage verlangen außerdem einen Importstopp. Genau das wird aber die Direktoren davon abhalten umzudenken, sich am Weltmarktniveau zu orientieren.

Eine Reihe großer Fabriken in Petersburg und Moskau, die schon vor zwei Jahren die Chance nutzten, Aktiengesellschaften zu werden, können mittlerweile beachtenswerte Erfolge verbuchen. Der ökonomische Direktor der Moskauer Elektrofabrik „Lenin“, Riel, spricht davon, daß bereits ein Drittel seiner Produktion an Kühlschränken und Kochherden in den Westen geht. Absatzschwierigkeiten haben sie keine: „Das Gerede über die zusammengebrochenen Strukturen nach dem Zerfall der UdSSR ist eine Ausrede.“

Wer früher nur in Valutaläden gekauft hat ...

Das Interesse der Bürgerunion um Rutskoi für den Wohlstand der Russen grenzt an Heuchelei. Hier haben sich Leute gesammelt, die noch bis zum Ende des Augustputsches an die Verschwörer glaubten und die das ZK-Archiv von belastendem Material befreiten. Leute, die kaum in ihrem Leben ein russisches Geschäft betreten haben, die sich immer nur in Valutaläden oder über Spezialzuteilungen bedienten.

Auch wenn Rußland seinen Zahlungsaufforderungen nicht nachkommen kann, trägt der Westen eine Verantwortung, die Kapitalzufuhr nicht austrocknen zu lassen. Zahlungsunfähigkeit und Abbruch der Reformen ergäbe ein hochexplosives Gemisch. Noch sind die Reformen nämlich nicht gescheitert.

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