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Eine Lawine aus Hass

Er war der erste Angeklagte, der in einem öffentlichen Verfahren zur sogenannten Stuttgarter Krawallnacht vor Gericht saß. Und hat die ganze Macht des Staates, einer aufgebrachten Gesellschaft und der Medien zu spüren bekommen. Gerettet hat ihn ein guter Arbeitgeber. Und die Liebe seiner Eltern.

Das demolierte Polizeiauto, für Medien und Krawalltouristen zur Schau gestellt. Foto: Jens Volle

Von Anna Hunger↓

Da sitzt er also, der Staatsfeind. Einer derer, die „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ in Stuttgart heraufbeschworen haben sollen, die sich „gegen die gesellschaftliche Grundordnung gerichtet“ (Landesinnenminister Thomas Strobl, CDU) und „den Staat angegriffen“ („Stuttgarter Zeitung“) hätten, in der „Nacht der Schande!“ (Alice Weidel, AfD). Wegen ihnen ist Bundesinnenminister Horst Seehofer sonntags nach Stuttgart einflogen, um sich medienwirksam und empört vor dem Polizeiauto foto­grafieren zu lassen, das während der so genannten Stuttgarter Krawallnacht seine Scheiben verloren hat.

Der junge Mann, der selbige zerdeppert hat, sitzt bei seinem Anwalt in Stuttgart auf dem Ledersofa, ein freundlicher Kerl, gut erzogen, über der Maske dunkle Augen, die manchmal älter wirken, als es dieser Junge mit seinen 19 eigentlich ist. Das vergangene Jahr hat ihn erwachsen werden lassen, wird er zum Ende des Gesprächs erzählen.

Er krempelt den Ärmel hoch und zeigt die Narben, die diese Sommer-Nacht hinterlassen hat. Da und da und da. Und da sei noch ein Stück Polizeiauto-Scheibe dringesteckt, er zeigt auf einen großen roten Fleck, fährt mit den Fingern am Arm herunter, „war alles voller Blut. Überall.“

Keiner hat sich um die Jugend geschert

Der junge Mann war Angeklagter im ersten öffentlichen Prozess rund um die Ausschreitungen, die wochenlang internationale Medien, Politik bundesweit und eine Menge Rassisten beschäftigt hatte. Im Corona-Sommer 2020, in dem sich keiner auch nur einen Furz geschert hat um die Jugend, die plötzlich mit all der Power, die vor allem jungen Männern in der Brust sitzt, nichts mehr hatte außer Seuche am Hacken – kein Sportstudio, keine Freunde, keine Party, nur Eckensee mit Bier – verbotenerweise. Oder, wie im Fall des jungen Mannes, Jacky Cola. Die halbleere Dose hat er geworfen, grob in die Richtung, in der Polizisten standen. Sie ist dann im Flug an einem Verkehrsschild abgeprallt. Sein Anwalt Marc Reschke kann die Situation schön nachahmen: Er hebt den Arm – Dose fliegt, dann – döngl – Schild – dann plumps – Boden, der Anwalts-Arm schnellt nach unten. Versuchte gefährliche Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch.

„Ausgerastet“ sei er in der Nacht, schrieb die „Bild“, habe „Polizisten attackiert“. Das Blatt zeigt Fotos des damals 18-Jährigen vor Gericht, noch eines, auf dem er in der Nacht zu sehen sein soll, wie er etwas wirft, und verspricht, hinter der Bezahlschranke seine Vorstrafen aufzuzählen: Beleidigung, Schwarzfahren, Fahren ohne Fahrerlaubnis! Vor allem Letzteres klingt dramatisch, wenn man nicht weiß, dass der Junge mal mit Mamas Auto versucht hatte, eine Runde auf dem Hof zu drehen und dann rückwärts gegen eine Mauer fuhr.

Er erzählt, wie in dieser Sommernacht in Stuttgart plötzlich irgendwas los war und alle rannten und er auch, mit Suff im Kopf, wie sich dann alles in ihm entladen hat in einem Dosenwurf und dem Zerschlagen der Autoscheiben. All die vielen Tage in seinem Leben, an denen er jeweils drei-, viermal von der Polizei kontrolliert wurde, weil er dunkles Haar hat. Dieses latente Gefühl, grundsätzlich und immer anders behandelt zu werden als Menschen mit hellem Haar, obwohl er schon immer in Deutschland lebt. An die unzähligen Male, wo sie ihm „Scheiß Kanake“ hinterhergerufen haben und seinen Kumpel, der dunklere Haut hat als er, mit dem N-Wort beleidigt haben. Er sagt das so: Mit dem N-Wort. „Sowas fühlt sich einfach nur beschissen an.“

Sich ein Mal überlegen fühlen. Endlich.

Und dann kam Black Lives Matter. Und warf ein fettes Ausrufezeichen in den Himmel über der internationalen Gesellschaft wie Commissioner Gordon das Batman-Zeichen. Unübersehbar. Hier sind wir! Beschäftigt euch mit der Ungerechtigkeit, die uns widerfährt! „Das war so wichtig“, sagt der Junge, „alle haben doch sonst immer nur weggeschaut“. Und in dieser Nacht, im Schutz der Menge und des Alkohols, „hab ich mich unantastbar gefühlt“. Einmal überlegen. Endlich. Etwas später in dieser Nacht setzte ein Polizist eine Sprachnachricht ab, die im Nachgang öffentlich wurde: „Nur Kanaken“, sagt er zu seinen KollegInnen über die jugendlichen Randalierer, mit denen man sich „heute Nacht wirklich im Krieg“ befinde, „ich übertreibe nicht“.

Und während der Krawall in der Stadt erst richtig losging, saß der junge Mann – exakt um null Uhr neunzehn – im Krankenhaus und hat sich den Arm zusammennähen lassen. „Für mich war es gut, dass ich mich verletzt habe“, sagt er. „Das hat mich gestoppt.“ Das Gericht sah das anders. Weil er die Taten schon früh am Abend begangen hatte, soll er eine animierende Wirkung auf andere gehabt haben und damit „besonders schwere Schuld.“ Als er aus dem Krankenhaus kam, sei Ausnahmezustand gewesen. „Überall Läden ohne Schaufenster, das war sehr krass. Ich hatte nicht gedacht, dass das so ausartet.“

Dann heim, mit verbundenem Arm, Restalkohol, im Bett habe er noch gedacht, „was ist denn da abgegangen?“ Seinen Eltern hat er am nächsten Tag erzählt, er sei in Stuttgart von einem E-Roller gefallen. Die waren schockiert vom Krawall und hatten, weit vor der später heiß diskutierten „Stammbaumforschung“ zur Eruierung der Täterherkunft, schon Sorge: „Oh bitte“, habe seine Mutter gesagt, „lass es nicht nur Migranten gewesen sein, sonst sind wir wieder schuld.“

Dann kam die Paranoia. Dass man ihn findet, denn das, was plötzlich über die Täter hereinbrach, war eine Lawine aus rassistischem Hass, die volle Macht des Staates auf allen Ebenen, die Macht der Presse, international, in einer Zeit, in der es nur wenig zu berichten gab. Es gab sogar genug sonst Unverdächtige, die plötzlich ein irgendwie geartetes Migranten-Pro­blem witterten. Am darauffolgenden Sonntag ist er wieder nach Stuttgart gefahren. Das Gericht legte ihm das negativ aus – er sei wieder gekommen, weil er dachte, da ginge nochmal was. „So ein Quatsch“, sagt sein Anwalt. Der junge Mann nickt. Blöd war es trotzdem. Eine Streife hielt ihn an, mindestens zehn Polizisten haben ihn zur Wache begleitet, er in der Mitte, im Kopf den Gedanken: „Scheiße, jetzt ist es vorbei.“

„Nenn’ uns andere, die dabei waren“

Man hat ihn fotografiert und am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt. Anwalt Reschke hatte noch versucht, ihn rauszuboxen, „Leute, der Kerl muss zur Arbeit, der wohnt noch bei seinen Eltern!“, aber nix war’s. Der Haftrichter, erinnert er sich, habe nur gesagt: „Nenn’ uns andere, die dabei waren.“ „Das ist kein Haftgrund“, sagt Reschke rückblickend. „Das ist Erpressung.“

Sieben Wochen Untersuchungshaft, Stammheim, Haus 5. Reschke hatte zuvor schon eine erste Beschwerde eingelegt, vergeblich. Er hatte versucht einen Deal mit der Staatsanwältin auszuhandeln, hatte die Jugendgerichtshilfe auf seiner Seite, ohne Erfolg. „Der bleibt drin“, war das, was Reschke hörte. Erst seine zweite Beschwerde war letztlich erfolgreich. „Man hat niemals damit gerechnet, dass man ins Gefängnis muss“, sagt der Junge.

Schlimm, dass seine Eltern in der ersten Nacht nicht wussten, wo er ist. Was würden sie sagen, wenn der Sohn im Gefängnis sitzt? Was würden sie sagen, wenn sie erfahren, dass er doch dabei war in dieser Nacht, gelogen hatte?

„Ich hab’ mich ganz arg geschämt“, sagt der junge Mann. „Und ich hab’ gedacht, Mann, was wird aus meiner Ausbildung? Alle anderen gehen weiter in ihrem Leben und ich? Ich bleibe stehen?“ Die Eltern ­haben ihrem Jungen einen Brief geschrieben ins Gefängnis, dass sie hinter ihm stehen, ihn unterstützen. Sein Arbeitgeber hat seine Ausbildung zum Industriemechaniker auf Eis gelegt, bis er wieder rauskam. Für all das ist er dankbar. Sehr sogar.

Mehr als 130 Täter hat die Polizei bislang ermittelt. Manche sitzen noch in Untersuchungshaft, bei anderen wurde der Haftbefehl gegen Auflagen ausgesetzt. Manche haben Briefe geschrieben an Laden­besitzer und sich entschuldigt. Einer sagte vor Gericht: „Ich war dumm. Es tut mir leid, was wir mit unserer Stadt gemacht haben.“

Hassmails an den Rechtsanwalt

Dann vor Gericht „das Brett“: zweieinhalb Jahre ohne Bewährung. „Der Rechtsstaat zeigt Zähne. Das möchte sich der Mob hinter die Ohren schreiben“, befand Innen­minister Strobl. Die deutsche Polizei­gewerkschaft jubilierte: „Wer Straftaten begeht, muss dafür die Härte des Gesetzes spüren.“ Sie seien zur Verhandlung durch die Tiefgarage rein, erzählt Reschke, wegen all der Presse, die vor und im Gerichtssaal stand, „locker 30 Fotografen. Das war wie bei einem Klassenfoto“, sagt der Junge. „Nur andersrum.“ Einer sitzt da und 30 schießen ihn ab. „Ich habe mich gefühlt, als wären alle gegen mich, die ganze Welt. Als würden alle gegen mich hetzen, weil das plötzlich so eine politische Sache war. In meinem Wohnort kennt man sich. Ich habe mich in der Öffentlichkeit bloßgestellt gefühlt.“ Und dann all die Gerüchte. Er habe eine Uhr geklaut, hieß es zum Beispiel, dabei stimmt das nicht.

Anwalt Reschke hat Mails bekommen und Briefe, wie er denn so eine Type verteidigen könne! Der gehöre „ins Arbeits­lager!“, „lebenslänglich!“ Reschke schüttelt den Kopf, so was hat er noch nie erlebt. „Nach der Nacht war ja das verlorene Sicherheitsgefühl in der Stadt breit in der Diskussion. Aber ich lebe auch in Stuttgart, ich hatte nicht das Gefühl, dass ich unsicher bin.“ Nein, das sei kein Einzel­geschehnis gewesen, Krawall gibt es überall und immer wieder. „Aber alle haben so getan, als sei da Hannibal mit seinen Elefanten durch Stuttgart getrampelt.“

Mit einem Knall auf dem Boden der Tatsachen

Die mobile Jugendarbeit hat nach dieser denkwürdigen Nacht neue Stellen bekommen. Es gab eine öffentliche Diskussion mit der Polizei über Racial Profiling und Rassismus unter den KollegInnen. Seit zwei Wochen laufen in Stuttgart so genannte Wiedergutmachungskonferenzen, Täter, Polizisten, Ladenbesitzer berichten jeweils ihre Sicht. Auch der junge Mann war bei einer dabei. Sei gut gewesen, sagt er.

Anwalt Reschke hat Rechtsmittel eingelegt gegen das harte Urteil des Amtsgerichts. Mittlerweile hat das Landgericht die Gefängnisstrafe in eine zur Bewährung umgewandelt. Der junge Mann ist sogar ein bisschen dankbar für all das, was ihm passiert ist. Die Zeit im Gefängnis habe ihn „wie mit einem Knall“ auf den Boden geholt. „So schnell kann’s gehen und du sitzt.“ Er wisse jetzt, was ihm wichtig ist im Leben. Und er hat seinen Freundeskreis ausgedünnt: „Ich muss nicht mehr jedem vertrauen.“

Er schaut auf den Boden zwischen seinen Füßen. „Ganz Deutschland hat über diese Nacht gesprochen.“ Dann ein Blick aus dem Augenwinkel, weil er sich nicht so ganz sicher ist, ob man das so betrachten darf: „Ich hab’ vielleicht ein bisschen Geschichte geschrieben.“ Und weil bei diesen Worten zwei Erwachsene im Raum breit grinsen müssen, weil man das natürlich darf, nach einem Jahr Seuche, gespickt mit Knast, Gericht, AfD-Hetze, Rassismus, bewiesener Elternliebe und einem guten Arbeitgeber, lachen seine Augen wieder ein bisschen.

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