: Eine Kette macht Geschichte
Mit 100 Kilometern war sie 1983 die längste Menschenkette aller Zeiten. Hand in Hand standen am 22. Oktober etwa 400.000 Menschen zwischen Stuttgart und Neu-Ulm, um gegen die geplante Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen zu protestieren. Seitdem gibt es immer wieder Nachahmer der neuen Protestform
von Hermann G. Abmayr
Ulli Thiel aus Karlsruhe hatte 1983 die Idee und hat bei einer Konferenz in Ulm die Mehrheit der Friedensaktivisten im Südwesten hinter sich bekommen. (Siehe auch das Interview mit Wolfgang Sternstein auf Seite 2 dieser Ausgabe.) Die Aktionsform betone vor allem das Verbindende, sagt Thiel: „Ich bin ein Teil von soundso viel tausend Menschen. Dieses Gefühl kommt bei einer Menschenkette wesentlich besser zum Ausdruck, als wenn man auf einem großen Platz steht und Reden hört. Und es macht den Leuten Spaß.“
Nach 1983 reichten sich immer wieder Menschen die Hand. Über eine Million waren es 1989 in Estland, Lettland und Litauen. Sie demonstrierten so für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Die Kette war 650 Kilometer lang. Ende des Jahres 89 formierte sich zwei Menschenketten quer durch die DDR, eine von Nord nach Süd, eine von Ost nach West. Motto: „Erneuerung und Demokratisierung unserer Gesellschaft – Ein Licht für unser Land“.
Lichterketten gegen Krieg und rechte Gewalt
Anfang Dezember 1992 machte eine Lichterkette in München Schlagzeilen. Schweigend und mit Kerzen in der Hand standen über 300.000 Menschen in der Landeshauptstadt, um gegen Anschläge auf Asylsuchende zu demonstrieren. Gegen Rechtsextreme ging man auch in Dresden auf die Straße. Ebenfalls mit Lichterketten. Über 10.000 Bürger gaben sich am 13. Februar 2013, dem Jahrestag der Dresdner Bombennacht von 1945, die Hand. Es sollte ein mahnendes Zeichen gegen Krieg und Gewalt sein. Und gegen Neonazis und andere ausländerfeindliche Gruppen, die für denselben Tag zum Aufmarsch aufgerufen hatten.
Auch in Baden-Württemberg protestierte man in den vergangenen 30 Jahren immer wieder mit Menschenketten. 2007 beispielsweise umzingelten die Beschäftigten des Automobilzulieferers Kolbenschmidt in Neckarsulm ihr Werk, um gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen zu protestieren.
2009 erinnerte die „Spur der Erinnerung“ an den ersten fabrikmäßig organisierten Massenmord der Welt, an die Ermordung von über 10.000 Behinderten und Kranken auf der Schwäbischen Alb. Die Spur führt von Grafeneck zum Stuttgarter Karlsplatz, dem Sitz des Innenministeriums, dem Ort der Täter. Tausende Menschen bildeten im Ermstal entlang der Spur eine Kette und ließen Ballons steigen. Startpunkt der Kette war die Behindertenhilfe Ermstal.
2011 umarmte eine Menschenkette den Stuttgarter Hauptbahnhof, um zu zeigen, dass er nicht in der Tiefe versenkt werden soll. Tausende grüne Ballons stiegen in den Himmel. Und für den 12. März 2011 organisierte die Anti-AKW-Bewegung eine Protestkette zwischen dem Atomkraftwerk Neckarwestheim und Stuttgart, um „den Ausstieg in die Hand zu nehmen“, wie das Motto hieß. Es war – zufällig – der Tag nach dem Beginn der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima. 60.000 Menschen kamen.
400 Kilometer für die katalanische Unabhängigkeit
Eine der seither längsten Menschenkette gab es erst vor gut einem Monat: Sie reichte über eine Strecke von 400 Kilometer von den Pyrenäen durch die Städte, Barcelona und Tarragona bis an die Grenze zur spanischen Nachbarregion Valencia. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung wollte damit den Druck auf die Zentralregierung in Madrid erhöhen. Hunderttausende haben so für einen eigenen Staat demonstriert.
Auch dies wird nicht die letzte Menschenkette bleiben. Die nächste hat Made Höld aus dem oberschwäbischen Ravensburg bereits für 2014 angekündigt. Ihr Motto: „Sei dabei – für Toleranz und gegen rechts“.
Es wird wohl die erste digitale Menschenkette, denn Höld und seine Mitstreiter halten Menschenketten zwar für gut, „aber irgendwie auch scheiße, weil da Leute von weiß der Geier woher angekarrt werden, um sich an den Händen zu halten. Ökologisch totaler Mist.“ Aneinandergekettet werden diesmal Porträtfotos. Am 1. Februar wird die Foto-Menschenkette dann auf einem Kultur- und Musikfestival auf einer Großbildleinwand in einer Endlosschleife gezeigt und auf einer Internet-Galerieseite zu sehen sein.