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Archiv-Artikel

Eine Geschichte vom Lesenlernen

HIPPEN EMPFIEHLT In „Das Labyrinth der Wörter“ von Jean Becker spielt Gérard Depardieu einen modernen Obelix, der als Analphabet beginnt, die Literatur zu lieben

Es ist schwer, die Geschichte solch einer Erweckung gut zu erzählen, gerade weil sie so anrührend und rundherum positiv ist

VON WILFRIED HIPPEN

Es ist wohl ein wenig gewagt, Gérard Depardieu und Meryl Streep miteinander zu vergleichen, aber beide haben in ihren Heimatländern einen ähnlich unangreifbaren Status. Von ihnen wird gesagt, sie könnten „alles spielen“, und beide versuchen in den letzten Jahren diesen Ruf noch zu festigen, indem sie möglichst untypische Rollen annehmen. So konnte man die vielfache Oscarpreisträgerin in dem Abba-Spektakel „Mamma Mia!“ bewundern und Depardieu hat inzwischen alle französischen Helden von Cyrano de Bergerac bis Danton durch – nur Napoleon fehlt, weil die Rolle ihm zu klein wäre. So spielt er in diesem Jahr nach „Mammuth“ und „Small World“ schon zum dritten Mal einen tumben Antihelden.

Dieser Germain lebt in einem französischen Provinzstädtchen, macht Gelegenheitsarbeiten und läuft am liebsten im Blaumann durchs Örtchen. Dass er nicht lesen und schreiben kann, bemerkt kaum jemand – sein Leben ist einfach, aber ihm scheint es an nichts zu fehlen. Nach Feierabend sitzt er mit seinen Freunden im Stammlokal und nur ein unsympathischer Neunmalkluger zieht ihn hin und wieder mit hämischen Fragen aus dem Kreuzworträtsel auf. Zuhause kümmert er sich um seinen Garten und seine despotische und zunehmend verwirrte Mutter. Mit einer Busfahrerin hat er eine zögerlich-zärtliche Liebensbeziehung – alles läuft also bestens in seiner kleinen Welt.

Doch dann sitzt bei seinem täglichen Besuch bei den Tauben im Park eine zierliche älteren Dame auf seiner Lieblingsbank und die beiden kommen ins Gespräch. Nach ein paar Minuten liest sie ihm aus ihrem Buch, „Die Pest“ von Camus vor, und er entdeckt die für ihn ganz neue Welt der Literatur. Bald liest sie ihm jeden Tag ein wenig auf der Bank im Park vor und Germain kann sich bald sein Leben nicht mehr ohne sie und ihre Bücher vorstellen. Doch dann werden ihre Augen schlechter und die bucklige Verwandtschaft will ihre Heimkosten nicht mehr zahlen.

Es ist schwer, die Geschichte solch einer Erweckung gut zu erzählen, gerade weil sie so anrührend und rundherum positiv ist. Das droht schnell allzu nett zu werden, und kippt dann in den Gutmenschen-Kitsch. Doch der Regisseur Jean Becker („Ein mörderischer Sommer“, „Dialog mit meinem Gärtner“) ist ein zu alter Hase, um in diese so große Falle zu tappen. Dazu hat er die Vorlage, einen Bestseller von Marie-Sabine Roger, mit einem ganz eigenen Humor adaptiert. So stößt etwa Germain leidvoll beim Lesenlernen auf das altbekannte Paradox, dass man in einem Wörterbuch nur dann herausfinden kann, wie ein Wort geschrieben wird, wenn man vorher weiß, wie es geschrieben wird. Becker erzählt sehr atmosphärisch, und jeder Gast in Germains Stammkneipe ist nicht nur ideal besetzt und mit einer interessanten Persönlichkeit ausgestattet, sondern bringt auch noch einen kleinen, eigenen Erzählstrang mit in den Film, sodass dieser lebendiger und komplexer wirkt, als man es bei der im Grunde doch eher simplen Grundgeschichte erwarten würde.

Depardieu war selten so liebenswert wie in diesem Film. Er spielt den immer etwas langsamen Germain, der natürlich auf seinem verspäteten Bildungsweg dicke Patzer fabriziert, aber auch bauernschlau jede kleine Perle seines neuen Wissens so hell wie möglich funkeln lässt, so einfach und natürlich, wie es nur die ganz großen Schauspieler können. Und dennoch stiehlt ihm in manchen Szenen die 96-jährige Giséle Casadesus die Show. Ihre Leistung kann höchstens mit der von Jessica Tandy in „Driving Miss Daisy“ verglichen werden. Bei ihren gemeinsamen Szenen sehen wir Germain immer mit ihren Augen.