: Ein „sehr mangelhaftes Werk“
■ Die Mängel der Pflegeversicherung sind wegen der Debatte um ihre Finanzierbarkeit bislang zu wenig beachtet worden / Für eine halbe Million Betroffene bringt sie eine eklatante Verschlechterung
Berlin (taz) – Die Pflegeversicherung ist ein „sehr mangelhaftes Werk“, attestiert der Sprecher des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider dem Gesetzeswerk. Die drei Hauptkritikpunkte: Nur wer täglich eine Pflegeleistung in Anspruch nimmt, fällt unter die Regelung des neuen Pflegegesetzes. 465.000 Pflegebedürftige, die nur zwei- oder dreimal die Woche Pflege brauchen, sind damit von der Pflegeversicherung ausgeschlossen. Bislang zahlen sie die Kosten für die Pflege entweder selbst oder müssen auf Sozialhilfe zurückgreifen. Doch diese Möglichkeit werden sie künftig nicht mehr haben.
„Mit der Einführung der Pflegeversicherung wird die Pflege im Bundessozialhilfegesetz zur Kann- Leistung umgewandelt,“ stellt Schneider fest. Im Klartext: die Übernahme von Pflegekosten durch die Sozialhilfe wird zum Gnadenakt eines Sachbearbeiters. „Da wird regelrecht eine Rutsche geschaffen“, kritisiert Schneider. Am Ende gibt es gar keine Auffanglinie mehr.
Auch die Höchstsumme von monatlich 2.100 Mark, die der Gesetzentwurf vorsieht, ist von verschiedener Seite als zu niedrig kritisiert worden. Von diesem Höchstbetrag, der ohnehin nur für Schwerstpflegefälle gilt, können bei einem Pflegesatz von rund 50 Mark die Stunde pro Monat gerade einmal 42 Pflegestunden bezahlt werden. Das macht 1,4 Stunden täglich – bei weitem zu wenig. Der vielfach beschworene Entlastungseffekt für die Sozialhilfe dürfte deshalb auch weitaus geringer ausfallen.
Auch die Einkommensgrenze, ab der die gesetzliche Versicherung zur Pflicht wird, ist – auch nach Ansicht der SPD - zu niedrig angesetzt. „Wir müssen die Solidargemeinschaft möglichst groß anlegen und möglichst viele Besserverdienende einbeziehen,“ sagt Schneider. Die Rechnung ist einfach: je mehr in den Topf einzahlen, desto mehr kann ausbezahlt werden.
Nach Schneiders Einschätzung macht sich in den Spitzenverbänden die Stimmung breit, daß man wegen der erheblichen Mängel vorerst lieber ganz auf die Pflegeversicherung verzichten sollte. Doch laut hat das noch niemand gesagt, denn niemand will die Schuld dafür zugeschoben bekommen, daß die Pflegeversicherung nicht zustande kommt. Auch die SPD ist in einer Zwickmühle: bei aller berechtigten Kritik am Gesetz kann sie es sich politisch kaum leisten, es zu Fall zu bringen. Es rächt sich, daß sich die öffentliche Debatte bisher vor allem um die Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung gedreht hat, nicht jedoch ihre Ausgestaltung. Dorothee Winden
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