■ Ein schneller Zug der Bahn: Der ICE und der relative Kilometer
Zuerst hatten wir ihn nicht erkannt, den alten Herrn mit dem Schnauzer und dem wirren langen Haar. „Gibt es in dieser Redaktion einen Physiker?“ fragte er, und seine wäßrigen Augen leuchteten. „Vor Jahrzehnten habe ich eine Theorie aufgestellt, die Relativitätstheorie. Bisher hat sie niemand verstanden – dachte ich jedenfalls. Jetzt aber habe ich dieses Büchlein entdeckt.“ Der grauhaarige Nobelpreisträger drückte uns schwungvoll eine kleine weiße Broschüre in die Hand: eine „Auswahl günstiger Reisezugverbindungen“, herausgegeben von Bundesbahn und Reichsbahn.
„Was ich damals geschrieben habe“, krächzte der Alte mit seltsam heiserer Stimme, „über Zeit und Materie, über Energie und Geschwindigkeit, über Bezugssysteme und Raum-Koordinaten: Alles das steht hier auch. Denn was die meisten Menschen bezweifeln, wird hier wieder belegt: Relativ ist auch das Maß der Geschwindigkeit und das Maß der Entfernung. Nicht jeder Kilometer ist gleich lang.“
Wir staunten. „Ihr seid nie im Zug nach München gefahren“, schnarrte der Alte. Seine Stimme überschlug sich. „Von Berlin über Probstzella sind es 677 Kilometer; die ICs fahren die Strecke in achteinhalb Stunden. Der ICE dagegen braucht laut Büchlein sieben Stunden und zwanzig Minuten – für eine Strecke, die um 900 Kilometer betragen soll. Da sind die Kilometer kürzer.“
Albert Einstein fuchtelte mit den Armen und schnaufte triumphierend: „Das Zentrum der Relativität muß der Bahnhof Lichtenberg sein. Denn vorläufig starten die Züge von dort und brauchen über neun Stunden nach München. Dann sind also die Kilometer wieder länger. Daneben aber soll es noch einen Zubringer-Shuttle vom Bahnhof Zoo nach Michendorf geben: Der wiederum beschleunigt die Kilometer.“
Einstein weinte vor Freude. „Alles bei der Bahn ist so verwirrend. So chaotisch. So relativ.“ Bernhard Landwehr
Siehe auch Bericht Seite 24
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