■ Ein schneller Eintritt Bosnien-Herzegowinas in die EU kann die Nationalisten stoppen und den Frieden retten: Nur auf den ersten Blick kostspielig
Zwanzig Monate nach dem Abkommen von Dayton steht Bosnien eher vor als nach einem Krieg. Der US-Sonderbotschafter Holbrooke hat bei seiner jüngsten Visite außer Absprachen zu Botschafterposten nichts erreicht; der Rückzug der SFOR-Truppen rückt näher, ohne daß der Friedensvertrag auch nur in Ansätzen umgesetzt ist; die EU ist aus dem Versuch der Konfliktregelung fast völlig abgemeldet.
Das Land ist politisch wie wirtschaftlich höchst instabil. Es existieren praktisch drei Staatsgewalten, die verbrecherische Politik der Vertreibung „anderer“ oder der Umsiedlung der „eigenen“ Volksgruppe hat sich weitgehend durchgesetzt. Bestrebungen, die Vertreibungen rückgängig zu machen und die Multikulturalität Bosniens zu erhalten, finden international wenig Unterstützung.
Deprimierend ist die wirtschaftliche Situation. Mit den Kriegszerstörungen und der Auflösung des jugoslawischen Binnenmarkts ist die Industrie Bosniens – eines einst hochentwickelten Landes – praktisch zusammengebrochen. Die bosnische Ökonomie droht zur verelendeten Randzone der westeuropäischen Wirtschaft herabzusinken.
Die politische Situation in Bosnien-Herzegowina ist ähnlich düster. Das kroatische Westbosnien und vor allem Serbisch-Bosnien sind Polizeistaaten, die von Mafiosi mit nationalistischer Ideologie zusammengehalten werden. Zentralbosnien steht in Gefahr, sich vom einstigen Glanz multikultureller Offenheit zum miefigen Religionsstaat mit faktischer Einparteienherrschaft zurückzubilden. Für eine Verankerung ziviler Demokratie sind das denkbar schlechte Voraussetzungen, denkbar gute jedoch, daß der Krieg wieder ausbricht.
Der Niedergang von Bosnien- Herzegowina ist kein zwangsläufiger, zumal Handlungen wie Unterlassungen der anderen europäischen Staaten mit zu ihm beitragen, wie Westeuropa den Zusammenbruch der jugoslawischen Föderation, wie Deutschland mit der voreiligen Anerkennung Kroatiens die Entstehung der bosnischen Kriegskatastrophe beförderte. Die Europäische Union kann die Verankerung nationalistischer Politik in der „Republika Srpska“ und „Herceg-Bosna“ stützen oder durch das Angebot einer europäischen Alternative die Stellung der Machthaber dort untergraben. Sie kann den sterbenden multikulturellen Traditionen des Landes wieder eine Zukunftsperspektive eröffnen und die Wirtschaft des Landes durch ein umfassendes Wiederaufbauprogramm auf die Füße zu stellen versuchen.
Niedergang, fortschreitende Teilung und wahrscheinlicher Neubeginn des Krieges – oder schneller Beitritt in die Europäische Union: diese Alternative stellt sich in und für Bosnien-Herzegowina. An der Gesamtperspektive einer EU, die sich ganz der Logik global betriebener Kapitalvermehrung unterwirft, sind gewiß Zweifel angebracht. Dennoch bietet die innerhalb der Union praktizierte Politik des Wirtschaftsausgleiches zwischen armen und reichen Regionen für ein Land, das am Boden liegt, eindeutige Vorteile.
Für die EU selbst ist ein Beitrittsangebot an Bosnien-Herzegowina nur auf den ersten Blick die kostspieligere Lösung. Die westeuropäischen Länder werden in den nächsten Jahren nicht umhinkommen, dem Land Zuschüsse und Kreditnachlässe zu gewähren, allerdings mit dem Unterschied, daß durchschlagende wirtschaftliche Verbesserungen nicht in Sicht sind. Die Finanzhilfen für Bosnien-Herzegowina zeichnet eine hochgradige Ineffektivität aus. Die Mehrzahl der bereitgestellten Gelder versickert im Gestrüpp der Hilfsorganisationen und Beraterteams, die sich ihre Dienstleistungen nach westlichen Standards auszahlen lassen, oder sie verschwinden im Korruptionssumpf der Schattenwirtschaft. Es ist weit wirksamer und mittelfristig auch kostengünstiger, Bosnien-Herzegowina zur wirtschaftlichen Wiederbelebung aus eigener Kraft zu verhelfen. Ein EU-Beitritt mit gezielten Strukturhilfen bietet dazu die vergleichsweise besten Aussichten, von der präventiven Wirkung der Kriegsvermeidung ganz zu schweigen.
Eines allerdings muß dabei unstrittig sein: Das Angebot eines EU-Beitritts ist zu knüpfen an die Garantie demokratischer Freiheiten, die uneingeschränkte Durchsetzung von Menschen- und Minderheitenrechten und die Sicherung der föderalen Einheit eines weiterhin multikulturellen Bosniens. Eine Voraussetzung dafür ist die Festnahme und Verurteilung der Kriegsverbrecher, die heute in Pale wie im kroatischen Teil Mostars an der Macht sind.
Die bosnische Gesellschaft ist im Begriff, an den Ungereimtheiten und Absurditäten europäischer Nationalstaatsbildung zugrunde zu gehen. Aus der schlimmen Erfahrung und gegen die mörderischen Versuche ethnischer Staatsbildungen entstand nach 1945 der europäische Einheitsgedanke. Nicht die Hoffnung auf wirtschaftliche Prosperität, sondern der anstehende Abschied vom Nationalstaat war das bewegende Element der europäischen Einigung. Es ist Zeit, sich auf das Primat dieser politischen Zielsetzung wieder zu besinnen. Sie allein hätte Anlaß sein müssen, dem Zerfall Jugoslawiens in völkisch definierte Teilstaaten frühzeitig und mit allen gebotenen Mitteln entgegenzutreten.
Im Fall Bosnien ist es nicht zu spät. Die Europäische Union kann selbstbewußt die Machthaber der Republika Srpska und von Herceg-Bosna samt ihren Hintermännern in Zagreb und Belgrad schachmatt setzen, indem sie das Angebot eines schnellen EU-Beitritts mit der Forderung nach innerer Demokratie und der Abkehr von nationalistischer Vertreibungspolitik verbindet. Dieselben Auflagen gelten gegenüber Kroatien und Serbien, die somit derzeit keine Chance haben, ein Beitrittsangebot in die EU zu erhalten. Wenn die bosnischen Teilstaaten in ethnischer Reinheit und internationaler Isolierung verelenden, den Menschen aber die Chance wirtschaftlicher Gesundung unter der Auflage von Rückkehrrechten, wechselseitiger Toleranz und demokratischer Rechte geboten wird, dann bemißt sich die waffengestützte Macht etwa eines Karadžić' nach Monaten.
Bosnien-Herzegowina gehört gerade in seiner Multikulturalität zu Europa. Und Europas Unionsbildung kann zu seiner Gründungsidee zurückfinden, wenn es den schnellen Beitritt dieses schwer geprüften Landes jetzt betreibt – mit dem klaren Primat einer antinationalistischen Politik, der Durchsetzung der Menschenrechte und der Aburteilung der Kriegsverbrecher. Hartwig Berger
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