: „Ein Wahrzeichen deutscher Weltgeltung“
60 Jahre nach Kriegsende und 600 Jahre nach Grundsteinlegung des Bremer Rathauses ist nur noch wenig darüber zu erfahren, wie die Nationalsozialisten das stolze Symbol der Hansestadt Bremen missbrauchten – und wer hier im Dritten Reich vom Balkon gefeiert wurde
Bremen taz ■ Schon am frühen Morgen versammeln sich riesige Menschenmassen vor dem Rathaus. Ihre Forderung: Der Rücktritt des Senats. Bis in die Abendstunden harren sie aus – mit Erfolg. Es ist der 6. März 1933, der Tag nach der Reichstagswahl. Die Rathausbögen werden mit Hakenkreuz-Wimpeln geschmückt, auch am Roland hängt ein Hakenkreuz. „Vergleichsweise harmloser“ Zierrat, urteilt später der Historiker Herbert Schwarzwälder in seiner „Geschichte der Freien Hansestadt Bremen“.
Abends ziehen SA, SS und Stahlhelm mit Musik auf dem Marktplatz ein und beziehen vor dem Rathaus Stellung. Eine Hakenkreuzfahne wird gehisst. Die Führer der NSDAP treten auf den rechten Rathausbalkon und verkünden den „Amtsverzicht“ dreier SPD-Senatoren und die Auflösung der Bürgerschaft. Die wartende Menge jubelt, das Horst-Wessel-Lied ertönt.
Gestern nun wurde das Bremer Rathaus 600 Jahre alt, auch die Nationalsozialisten haben seine Geschichte für ihre Zwecke missbraucht. „Das Rathaus ist ein Wahrzeichen und Hüter deutscher Weltgeltung“, verkündete etwa Bremens Bürgermeister Richard Markert am 13. Mai 1933. Gerade eben war Reichsstatthalter und Gauleiter Carl Röver einem Barockfürsten gleich in der Stadt eingezogen, in einem Geleit von 90 Autos. Von Huchting bis zum Marktplatz stehen zahlreiche EinwohnerInnen Spalier, Kinder schwenkten Hakenkreuzfähnchen. Röver spricht aus dem Sitzungssaal des Rathauses zur Menge, dazu erklingen Wagners Meistersinger.
Über die Geschichte des Rathauses im Dritten Reich gibt es heute nur wenig Dokumente. Eigene Bücher zu dem Thema sucht man vergebens, selbst die Standardwerke zur bremischen Geschichte enthalten kaum Archivmaterial. Auch darüber, was auf dem Rathausbalkon geschah – dort, wo heute Werder als Deutscher Meister gefeiert wird – lässt sich nicht mehr viel sagen. 1939 war damit sowieso Schluss: Rathaus und Roland wurden verschalt, um sie gegen Angriffe zu schützen.
Zuvor bestimmten Hakenkreuzfahnen und Aufmärsche immer wieder das Bremer Zentrum. Hinter dem Rathaus wurden am Domshof Militärparaden abgenommen, und schon am 1. Mai 1933 demonstrierten 60.000 Menschen zum „Feiertag der nationalen Arbeit“, Parteieinheiten beschlossen den Tag mit einem Fackelzug. Drei Jahre später versammeln sich hier wieder Zehntausende – zu einer Wahlkundgebung der NSDAP.
Doch die wenigen noch lebenden Zeitzeugen wissen von solchen Ereignissen nicht mehr viel zu erzählen. Herbert Breidbach beispielsweise hatte seine erste Begegung mit dem Rathaus nach 1935, als kaufmännischer Lehrling eines Bürohauses in der Langenstraße. Jeden Tag kam er in dieser Zeit am Marktplatz vorbei, erzählt der heute 74-Jährige – auf dem Weg zu seinem Elternhaus am Eingang der Neustadt. An eine Beflaggung des Rathauses mit Hakenkreuzfahnen kann er sich jedoch nicht erinnern, ebensowenig an den Fackelaufmarsch der „Hitlerjugend Nordsee“ im August 1937. Der Hitlerjugend entzog er sich erfolgreich. Auch ansonsten habe er sich nach Möglichkeit vom Rathaus fern gehalten, sagt Breidbach.
Wer weiter draußen wohnte, wie beispielweise Therese de Vries aus Gröpelingen, für den war der Weg in die Stadt ohnehin eine weite Reise. Und für die Nazis hätte sie diesen Weg sowieso niemals auf sich genommen: Die heute 85-Jährige bekennt sich nach wie vor zum Kommunismus. frs